EGON SCHIELE t—WIEN.
GEMÄLDE »VIER BÄUMEc
IN MEMORIAM EGON SCHIELE.
VON ARTHUR ROESSLER.
Unvermutet stieg er in das ihm traumver-
traute Reich der Schatten nieder, der jüng-
linghafte und lautlose Wanderer, der groß stau-
nenden Auges mit weiten Schritten über die
Erde gegangen war, und entschwand, ehe ihn
die streckenweisen Weggenossen und die am
Rande des Reiches der Kunst stehenden Men-
schen recht wahrgenommen hatten, den Blicken.
Den meisten, die seine an den verschiedensten
Orten zur Schau gestellten Arbeiten zu Gesicht
bekamen, galt er als eine fast legendarische Ge-
stalt, der Wunderlichkeiten anhafteten und die
sich hinter der Fülle der in unablässiger Tätig-
keit geförderten Gebilde verbarg, und sie fragen
sich nun: wer war er, wie war er?
Als derjenige, der ihm während der letzten
zehn Jahre ein brüderlicher Freund und Weg-
bereiter in das öffentliche Leben gewesen, will
ich darauf Antwort zu geben versuchen.
Von den inneren Vorbedingungen für die
Entfaltung seines ungewöhnlichen Wesens weiß
man nicht viel mehr als sich aus den von Schiele
geschaffenen Werkstücken selbst erraten läßt,
sodaß man sich in dieser Hinsicht auf Mut-
maßungen, auf spekulative Konstruktionen an-
gewiesen findet. Das Gebiet der Seele ist mir
jedoch zu unbestimmt, als daß ich es unter-
nehmen möchte, den seelischen Zustand Egon
Schieies gleichsam psychoanalytisch zu rekon-
struieren und danach auf die merkwürdigen, ja
einzigartigen Hervorbringungen seiner künst-
lerischen Schöpferkraft zu folgern. Es wäre ein
anderes, dürfte ich mir erlauben, hier von ihm
ein imaginäres Porträt zu entwerfen; diesem
würde vielleicht eine gewisse innere Wahrheit
eignen; da jedoch an dieser Stelle, neben dem
Gebot der Raumenge, die Forderung der Wahr-
scheinlichkeit geltend gemacht wird, begnüge
ich mich damit, in knappen Sätzen sozusagen
Authentisches von ihm zu berichten, wie es
mir aus vertrautem Umgang zur Kenntnis kam.
— Man weiß von ihm, daß er am 12. Juni 1890
XXII. Aupi«t 1919. 1
GEMÄLDE »VIER BÄUMEc
IN MEMORIAM EGON SCHIELE.
VON ARTHUR ROESSLER.
Unvermutet stieg er in das ihm traumver-
traute Reich der Schatten nieder, der jüng-
linghafte und lautlose Wanderer, der groß stau-
nenden Auges mit weiten Schritten über die
Erde gegangen war, und entschwand, ehe ihn
die streckenweisen Weggenossen und die am
Rande des Reiches der Kunst stehenden Men-
schen recht wahrgenommen hatten, den Blicken.
Den meisten, die seine an den verschiedensten
Orten zur Schau gestellten Arbeiten zu Gesicht
bekamen, galt er als eine fast legendarische Ge-
stalt, der Wunderlichkeiten anhafteten und die
sich hinter der Fülle der in unablässiger Tätig-
keit geförderten Gebilde verbarg, und sie fragen
sich nun: wer war er, wie war er?
Als derjenige, der ihm während der letzten
zehn Jahre ein brüderlicher Freund und Weg-
bereiter in das öffentliche Leben gewesen, will
ich darauf Antwort zu geben versuchen.
Von den inneren Vorbedingungen für die
Entfaltung seines ungewöhnlichen Wesens weiß
man nicht viel mehr als sich aus den von Schiele
geschaffenen Werkstücken selbst erraten läßt,
sodaß man sich in dieser Hinsicht auf Mut-
maßungen, auf spekulative Konstruktionen an-
gewiesen findet. Das Gebiet der Seele ist mir
jedoch zu unbestimmt, als daß ich es unter-
nehmen möchte, den seelischen Zustand Egon
Schieies gleichsam psychoanalytisch zu rekon-
struieren und danach auf die merkwürdigen, ja
einzigartigen Hervorbringungen seiner künst-
lerischen Schöpferkraft zu folgern. Es wäre ein
anderes, dürfte ich mir erlauben, hier von ihm
ein imaginäres Porträt zu entwerfen; diesem
würde vielleicht eine gewisse innere Wahrheit
eignen; da jedoch an dieser Stelle, neben dem
Gebot der Raumenge, die Forderung der Wahr-
scheinlichkeit geltend gemacht wird, begnüge
ich mich damit, in knappen Sätzen sozusagen
Authentisches von ihm zu berichten, wie es
mir aus vertrautem Umgang zur Kenntnis kam.
— Man weiß von ihm, daß er am 12. Juni 1890
XXII. Aupi«t 1919. 1