Die zwei Arten des Sehens
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ziehung zu seinem toten Kinde aufgehen. Als
Maler aber sieht er von der schrecklichen Bedeu-
tung seines Modells ab und übt jenes forschende,
abstrakte, feststellende Sehen, das rein aus dem
Geist und seinen Zwecken kommt und die seel-
ische Beteiligung vorübergehend verdrängt.
Die Dinge, die wir mit unsrer Seele kennen,
brauchen wir nicht mehr zu studieren. Der
Buchstabe ist für uns Bedeutungsträger. Wir
würden seinen Liniengang sehen, wenn wir
seine Bedeutung nicht wüßten. Die Bedeu-
tung ist uns bei weitem das Wichtigste; deshalb
geben wir auf den Sachverhalt nicht mehr acht,
wenn nur die Bedeutung festgestellt ist. Unsre
rationale Unkenntnis des Formbestandes ist
also in vielen Fällen gerade die Folge einer zu
genauen Bekanntheit mit dem entscheidenden
Inhalt. Das Fremde sehen wir objektiver und
dinglicher als alles, was uns lebendig angeht.
Und wenn wir Bekanntes und seelisch Wichtiges
dinglich sehen wollen, müssen wir vorher eine
Entfremdungsoperation vornehmen.
Es sind zwei verschiedene Arten des Sehens,
um die es sich hier handelt. Die eine ist im Kern
ein Erforschen, die andere ein Schauen. Die
eine ist zergliedernd, zerlegend, zerschneidend,
die andere ist zusammenfügend. Die eine ist
der Kritik, die andere der Mitfreude und Zu-
stimmung verwandt. Die eine geht aus von
der Fremdheit zwischen uns und dem Ding
und führt zu klarer Auffassung seiner gestalt-
haften Momente. Die andre beruht auf unsrem
seelischen Kennen des Dings, also auf unsrer
freundschaftlichen Beziehung zu ihm, und sie
läßt uns in der Feststellung der Bekanntheit
tiefstes Genügen finden. Und daher sagen wir
auch, der Haß sei schnell, scharf und witzig im
Bemerken, die Liebe aber blind. . . w. michel.
c. felixmuller. »holzschnitt« carl sternheim zum 50. geburtstag
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ziehung zu seinem toten Kinde aufgehen. Als
Maler aber sieht er von der schrecklichen Bedeu-
tung seines Modells ab und übt jenes forschende,
abstrakte, feststellende Sehen, das rein aus dem
Geist und seinen Zwecken kommt und die seel-
ische Beteiligung vorübergehend verdrängt.
Die Dinge, die wir mit unsrer Seele kennen,
brauchen wir nicht mehr zu studieren. Der
Buchstabe ist für uns Bedeutungsträger. Wir
würden seinen Liniengang sehen, wenn wir
seine Bedeutung nicht wüßten. Die Bedeu-
tung ist uns bei weitem das Wichtigste; deshalb
geben wir auf den Sachverhalt nicht mehr acht,
wenn nur die Bedeutung festgestellt ist. Unsre
rationale Unkenntnis des Formbestandes ist
also in vielen Fällen gerade die Folge einer zu
genauen Bekanntheit mit dem entscheidenden
Inhalt. Das Fremde sehen wir objektiver und
dinglicher als alles, was uns lebendig angeht.
Und wenn wir Bekanntes und seelisch Wichtiges
dinglich sehen wollen, müssen wir vorher eine
Entfremdungsoperation vornehmen.
Es sind zwei verschiedene Arten des Sehens,
um die es sich hier handelt. Die eine ist im Kern
ein Erforschen, die andere ein Schauen. Die
eine ist zergliedernd, zerlegend, zerschneidend,
die andere ist zusammenfügend. Die eine ist
der Kritik, die andere der Mitfreude und Zu-
stimmung verwandt. Die eine geht aus von
der Fremdheit zwischen uns und dem Ding
und führt zu klarer Auffassung seiner gestalt-
haften Momente. Die andre beruht auf unsrem
seelischen Kennen des Dings, also auf unsrer
freundschaftlichen Beziehung zu ihm, und sie
läßt uns in der Feststellung der Bekanntheit
tiefstes Genügen finden. Und daher sagen wir
auch, der Haß sei schnell, scharf und witzig im
Bemerken, die Liebe aber blind. . . w. michel.
c. felixmuller. »holzschnitt« carl sternheim zum 50. geburtstag