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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 62.1928

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Urzidil, Johannes: Grundsätzliches über die Kunst und den Künstler
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https://doi.org/10.11588/diglit.9251#0088

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GRUNDSÄTZLICHES ÜBER DIE KUNST UND DEN KÜNSTLER

VON JOHANNES URZIDIL

Den eigentlichen Erlebnisinhalt, die Substanz
eines Kunstwerkes, bildet immer das
Naturell des Künstlers, geformt unter den Ein-
wirkungen des anregendenFerments. Die Spuren
dieser Einwirkungen können sich am Kunst-
werk als Ähnlichkeiten bemerkbar machen. Die
Anlässe, welche zum kunstschaffenden Erlebnis
führen, liegen nicht in den visuell faßbaren Seiten
des anregenden Objekts, sondern in seinem
verborgenen stimmungsmäßigen Gehalt, der als
Erlebnis natürlich einen Teil des persönlichen
Charakters des Künstlers bildet. Die im Kunst-
werk sich niederschlagende Übereinstimmung
des Erlebnisses des Künstlers mit der äußeren
Erscheinung des anregenden Objekts ist bloß
eine der vielen Möglichkeiten des Kunstwerkes.
Sie kann aber zweierlei beweisen: Entweder,
daß das Erlebnis des Künstlers bis zu einem
Eigenleben noch nicht gelangt ist, und ängst-
lich an den äußeren Dispositionen des Modells
haften bleibt, d. h. daß er sich seinem körper-
lichen Auge unterwirft und noch nicht dahin
gekommen ist, mit einem inneren Auge das innere
Wesen der Erscheinungen zu erforschen und
daran sich selbst zu erkennen. Oder es kann
jene Übereinstimmung dartun, das Kunstwerk
sei ein Produkt derart organischer Entwicklung
des Erlebnisses, daß dieses in seinen Haupt-
resultaten mit den Hauptcharakterzügen des
anregenden Objekts wieder zusammenfällt. Dies
bedeutet dann allerdings eine Neuschöpfung,
welche auf dem Wege über die Persönlichkeit
des Künstlers zu porträtartigen Ähnlichkeiten
führt. Es sind dies nicht Ähnlichkeiten, die
direkt aus dem Modell abgeleitet sind, sondern
Ähnlichkeiten als Schlußresume des Schicksals,
welches das Erlebnis des Künstlers in seinem
rein inneren Wachstum erfahren hat.

Die Natur ist immer resultativ und zugleich
immer in der Entwicklung begriffen. Kunst auch
soll nicht bloß ein Resultat sein, sondern gleich-
zeitig das Bewußtsein des Weges zu diesem
Resultat. Kunstwerke sollen ein definitives
Dasein haben, aber auch zugleich sich selbst
und ihre Entwicklung interpretieren. So ist ein
Kunstwerk kein starrer Endpunkt, sondern in
der ständig kreisenden Bewegung des Wachs-
tums wie die lebendige Natur selbst. Von jeder
Erscheinung der Kunst sollen wir nach dem
Mittelpunkt des Geistes gelangen können, eben-
so wie wir von allen Erscheinungen der Natur
den Weg finden können zu den letzten Dingen.

Das natürliche menschliche Bestreben des
Utilitarismus, mit den geringsten Mitteln wo-
möglich größte Wirkungen zu erzielen, ist zu-
gleich die ästhetische Hauptforderung der Kunst.
Revolutionäre in der Welt der Politik, der
Wissenschaften oder ebenso der Künste sind
diejenigen, die auf einem einfachen Wege mehr
erreichen, als auf kompliziertem Wege bisher
erzielt wurde. Überschuß von angewandten
Mitteln wird zur Quelle des Lächerlichen. Daß
der Künstler durch eine leiseste und einfachste
Kraft eine ganze Welt des Schicksals aus den
Angeln hebt, daß er der einzige ist, der den
Ort kennt, von dem aus man solches vollbringen
kann, ebendies macht ihn größer als alle.

Das Gros der Menschen unterscheidet bei
sich zwischen Beruf und Privatleben. Für den
Künstler fallen beide zusammen: Dies ist seine
Bevorzugung vor der übrigen Welt, aber auch
der Inhalt seiner erhöhten Verantwortung. Extra
artem non est vita. Es ist unmöglich, daß sich
bei einem echten Künstler außerhalb der Kunst
etwas vollziehe. Dem Künstler ist das ganze
Leben nur ein Substrat seiner Kunst, ihr inte-
graler Bestandteil. Die Kunst kristallisiert aus
diesem Leben, und was etwa an Fremdkörpern
hineingerät, wird unwillkürlich zu Perlen umge-
staltet. Wo die Kunst nur ein Teil des Lebens
ist, da ist Betrug oder Halbbegabung am Werke.

Die Nützlichkeitsformen von Gebrauchsob-
jekten führen zuFormreduktionen, die stilbildend
wirken. Aber an jedem neugeschaffenen Objekt
müssen sich diese Reduktionen vom Geiste aus
neu und individuell entwirken, wenn es ein
Kunstwerk sein soll. Die Systemisierung eines
Vorrats von fertigen Reduktionen und deren
mechanische Übertragung führt zu Manier, For-
melhaftigkeit und einem von Mißverstand ge-
leiteten industriellen Kunstgewerbe. Hier liegt
eine der stärksten Gefahren der Verbildung des
Publikums und der Grenzverwischung zwischen
Kunstindustrie und echter Kunst. Es kommen
geschickte Leute, die den „Stilvorrat" gewohn-
heitsgemäß auf alles mögliche applizieren. Dies
erzeugt natürlich Divergenzen zwischen Form
und Bestimmung des Gegenstandes. Ornamen-
tale Anempfindungen sollen die aus geistigen
Triebkräften hervorgehenden Formreduktionen
ersetzen. Ein natürlicher Instinkt wird freilich
bald hinter den Schwindel kommen und ihn ver-
werfen. Der Niederschlag der künstlerischen
Form ist ein Röntgenbild des Geistigen. In der

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