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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 62.1928

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H. R.: Erstes Erblicken
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https://doi.org/10.11588/diglit.9251#0030

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maler erxst huber—wien

gemälde »vor dem wirtshaus«

ERSTES ERBLICKEN. Warum ist der erste
Eindruck, den wir von Menschen oder
Dingen haben, so häufig der richtige? — Weil
wir nur das erste Mal eigentlich „sehen". Weil
wir das erste Mal einen Menschen oder ein
Ding Irisch unmittelbar aulfassen. Gegenüber
diesem ersten Erblicken ist jedes zweite, dritte
Erblicken nur die Reproduktion eines ur-
sprünglich frischen und schöpferischen Vorgangs.
Nur das erste Mal treten wir zu dem Erblick-
ten in eine direkte, unverstellte Beziehung. Nur
das erste Mal halten wir uns rein an das Physio-
gnomische, d. h. wir lesen unmittelbar aus Linie
und Gebärde das Wesen des Erblickten ab.
Das sog. „nähere Kennenlernen" ist viel eher
geeignet, uns einen Menschen oder ein Ding
zu verbergen als zu enthüllen. Für Menschen
stimmt das ganz sicher. Jeder Mensch ist ein
verwickeltes Gewebe von Wahrheit und Trug.
Und zwar steckt das trügerische Element viel
weniger im Sinnfälligen der Erscheinung, als in
eines Menschen Ideologie, in seinen Kompen-

sationen und geistigen Ersatzbildungen, kurz, in
dem ganzen Überbau und Umbau, den er aus
den realen Bestandteilen seines Wesens aufge-
führt hat. Dem Graphologen gegenüber ent-
hüllen sich auch willentlich anerzogene Merk-
male der Handschrift in ihrer wahren Natur. Der
Mensch kann lügen, seine Hand kann es nicht.
Also ist auch hieraus zu schließen, daß die Physio-
gnomie den Menschen rascher und zuverlässiger
mitteilt als diese „nähere Kenntnis", die unfehl-
bar zunächst dazu führt, daß wir in das gröbere
oder feinere Lügengewebe des fremden Charak-
ters verwickelt werden. In derselben Richtung
zielt eine feine Bemerkung von Johann Heinrich
Merck, dem Jugendfreund Goethes. Er schrieb
einmal an Lavater, er habe häufig beobachtet,
daß er mit einem Menschen, der ihn beim ersten
Erblicken gewisse mißfällige Eigenschaften habe
vermuten lassen, erst nach langjährigem Verkehr
auseinandergekommen sei, und zwar immer ge-
nau aufgrund jener Eigenschaften, deren Züge
beim ersten Sehen hervorgetreten seien. . h. r.

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