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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 62.1928

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Michel, Wilhelm: Die Rolle des Irrtums
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https://doi.org/10.11588/diglit.9251#0253

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ERNST THOMS— NIENBURG

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»LANDSCHAFT MIT KÜHEN«

DIE ROLLE DES IRRTUMS

VON WILHELM MICHEL

Kommt irgendwo im menschlichen Bereich —
sei es in der Kunst, sei es im Denken oder
in der Wissenschaft — eine neue Bewegung
auf: was ist leichter, als ihr die Irrtümer nach-
zuweisen, die sie enthält? Wer einigermaßen
in der Welt gelebt und sich in ihr umgesehen
hat, wird zugeben müssen, daß mit allem mensch-
lichen Tun nichts notwendiger verbunden ist als
der Irrtum. Das ist schon deshalb unausweich-
lich, weil kein menschlicher Gedanke alle mög-
liche Wahrheit enthalten kann, sondern notge-
drungenermaßen nur eine oder mehrere Seiten
des umfassend Wahren herauszustellen vermag.
Ist eine Zeit auf den Gipfel gekommen, so ent-
wickelt sie, wie z. B. in Deutschland die Zeit
unserer Klassiker, eine Reihe von Einsichten, ja
eine ganze Weltanschauung, die überall von tief-
ster Erfahrung und solidestem Wissen getragen
ist. Was dann im Lauf der Zeit feindlich gegen
diese Weltanschauung auftritt, trägt notwendig
zunächst das Gepräge der Verzerrung, der man-
gelnden Einsicht, des Rückfalls in überwundene

Stufen, der rebellischen Narrheit, kurz: des
Irrens. Und dies schon deshalb, weil das Neue
anders ist als das Alte, das seine Geltung und
Wahrheit schon hundertmal erwiesen hat. Nun
ereignet sich aber immer wieder das Skandalöse,
daß das Neue, dessen Irrungen im Anfang selbst
einkindlicher Verstand darzulegen imstande war,
allmählich das Alte unterwühlt und stürzt. Es ist
eine große Demütigung für unsere Vernunft, daß
sie am Ende vieler Erfahrungen zugeben muß :
mit dem Nachweis, daß eine neue Sache irrig und
offenbar töricht ist, sei noch nicht das Geringste
über ihre Lebenskraft, über ihre geschichtliche
Ergiebigkeit entschieden. Unsere stolze Ver-
nunft, die immer darauf ausgeht, Dauergewinne
zu machen und Erfahrungen in Wahrheiten zu
befestigen, sie muß am Ende begreifen, daß das
Schellenkleid der Torheit die häufigste und kennt-
lichste Verkleidung der Kraft und Wahr-
heit von morgen ist. Sie kann nicht etwa
trotzig in ihrer Burg verharren und sagen: Was
einmal Irrtum war, bleibt immer Irrtum und wird
 
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