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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 62.1928

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Haas, Hermann: Fortschritt und Reaktion
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https://doi.org/10.11588/diglit.9251#0333

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WALTER SOBOTKA—WIEN

»AUS DEM SPEISEZIMMER« S.. 321

FORTSCHRITT UND REAKTION

Die Quintessenz allen künstlerischen Lebens
wie allen Lebens überhaupt ist Bewegung,
mag diesenun offen zu Tage treten oder aber nur
latent unter der Oberfläche Spannungsverhält-
nisse erzeugen, die erst im gegebenen Augen-
blicke zur Auslösung kommen. Erfolg dieser
Bewegung ist in allen Fällen, daß die geistigen
Kräfte ihre Fähigkeiten entfalten, sich die ver-
schiedensten Möglichkeiten erschließen und so
nach und nach ihr bestimmtes Profil gewinnen,
mit anderen Worten: die Entfaltung geschieht
als Evolution, d. i. die Aufrollung der in ihr be-
schlossenen Eigenschaften und Wirkungsmög-
lichkeiten. Das ist ein Prozeß, dessen Ende
nicht abzusehen ist, der nur in solchen Epochen
zum zeitweiligen Stillstande kommen kann, die
dem Geistesleben keine neuen Aufgaben stellen.

Die Beurteilung nun, in welchem Sinne diese
Bewegung erfolgt, ob aufwärts oder abwärts,
also im Sinne des Fort- oder Rückschrittes,
hängt ganz vom Standpunkte des Urteilenden
ab. Denn Fortschritt als Werturteil besagt ja
nichts anderes, als daß die Kunst eines Zeit-
abschnittes auf ihrem Wege nach einem be-
stimmten Ziele sich diesem genähert hat; die
Anerkennung eines bestimmten Zieles ist also
notwendige Voraussetzung für dieses Urteil.

Nun richtet sich aber das Ideal von den End-
zielen der Kunst meist nur allzusehr nach per-
sönlicher Anlage und Geschmack; deshalb sind
die Urteile über den Fortschritt in der Kunst,
wie wir beobachten können, ganz verschieden,
ja geradezu widersprechend.

Stimmt schon diese offenkundige Willkürlich-
keit, der jeder allgemeine Maßstab fehlt, be-
denklich, so wird die Berechtigung dieser Auf-
fassung noch zweifelhafter, wenn man die Frage
aufwirft, ob denn die Kunst eine solche Ziel-
strebigkeit überhaupt kennt; und dieser Zweifel
verstärkt sich nur bei einem Blick auf die Natur-
wissenschaften, die schon ganz davon abge-
kommen sind, der Natur ein Zweckbewußtsein
zu unterschieben. Aber auch die Meisterwerke
der Kunst geben diesem Zweifel Recht; denn
gerade sie verdanken nicht einer bestimmten
Absicht ihre Entstehung, sondern einem inneren
Drange, der der Kontrolle des Willens ursprüng-
lich nicht unterliegt. Daß dann bei der Aus-
arbeitung der Konzeption der Kunstverstand
eine nicht unwichtige Rolle spielt, ist wohl
richtig; doch ist das Technische auch hier nur
von sekundärem Belang. So schrumpft bei
näherer Betrachtung die Bedeutung des Fort-
schrittgedankens immer mehr zusammen. Denn

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