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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 62.1928

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Michel, Wilhelm: Die zwei Arten des Sehens
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https://doi.org/10.11588/diglit.9251#0076

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FRITZ BREUHAUS—DUSSELDORF

»HAUS FÜR EINEN MALER«

DIE ZWEI ARTEN DES SEHENS

An den Straßen, die wir täglich passieren,
./"Y stehen Häuser. Wir haben sie hundert-
mal, ja tausendmal gesehen. Aber wenn wir
eines dieser Häuser aus dem Gedächtnis skiz-
zieren sollen, dann können wir es nicht.

Manchmal hört man diese Tatsache anführen
als einen Beweis für die tadelbafte Oberfläch-
lichkeit, mit der wir uns in unsrer Welt um-
blicken. Aber es geht uns ja genau so mit
Dingen, die wir noch viel häufiger sehen; z. B.
mit den Lettern unsres Frakturdrucks, besonders
mit den Anfangsbuchstaben. Die haben wir
als ABC-Schützen sogar studiert, und jeden
Tag kommen sie uns hundertmal vor das Auge.
Aber wenn wir ein großes B, ein großes H9
nachzeichnen sollen, kommen die höckerigsten
Mißgeschöpfe zum Vorschein. Und so geht es
uns mit einer ganzen Reihe von Dingen oder
Wesen, die zu unserem täglichen Leben gehören.
Auch die Gesichter unsrer Kinder oder anderer
Familienangehörigen können wir nicht zeichnen
oder auch nur oberflächlich richtig angeben.
Wir „sehen" sie dauernd vor uns, und oft sehen
wir sie innig, liebend, eindringlich an. Aber
vor der Aufgabe, nun ihren Sachbestand an

Formen zutreffend wiederzugeben, versagen
wir. — Wie ist das zu erklären? —

Es liegt hier keineswegs eine Oberflächlich-
keit des Sehens vor, sondern es handelt sich
um eine andere, um eine besondere Form des
Auffassens. Wir können in den genannten
Fällen den „Sachbestand" an Formen deshalb
nicht angeben, weil wir die betreffenden Objekte
von vornherein nicht als „Sachen" ansehen.
Wir können uns bei ihrer Dingnatur nicht lange
aufhalten, weil es uns viel wichtiger sein muß,
zu ihrem Eigentlichen, zu ihrem seelenhaften
Gehalt vorzudringen. Der Maler — ja, der
kann den Formbestand angeben; aber nur des-
halb, weil er von der eigentlichen Bedeu-
tung dieses Formbestandes einmal abstrahiert
hat, weil er sich gezwungen hat, das betreffende
Wesen einmal rein als Ding anzusehen, als wäre
der Kopf ein merkwürdiger Stein und der Buch-
stabe ein bloßes Linienspiel, ein Ornament.
Die Anekdote von jenem italienischen Maler,
der den Körper seines erschlagenen Sohnes erst
noch einmal zeichnet, ehe er ihn begraben läßt,
deutet klar auf diesen Abstraktionsprozeß hin.
Als Vater müßte er völlig in der seelischen Be-

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