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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 62.1928

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Cassou, Jean: Ismaël Gonzales de la Serna
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Michel, Wilhelm: Geistige Voraussetzungen des Kunstwerks
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https://doi.org/10.11588/diglit.9251#0170

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Istnael Gonzales de la Serna

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reinsten und erfülltesten Raum zerspaltet. Es
ist der schneidende Aufschrei, der dem spani-
schen Guitarre-Spieler mit einem Male mitten
in ruhigen Akkorden aus der Tiefe der Seele
kommt und uns das Herz zerreißt.

Es gibt diesen Aufschrei bei La Serna immer,
diesen Ruf, diesen Exzeß: bald ist er in einem
bizarren, belebten Detail, das von einem Winkel
der Leinwand unsre Aufmerksamkeit ergreift,
bald im Ganzen des Bildes, im Gegenstand, in
dem romantischen und lyrischen Geist, der sich
lebhaft darin ausspricht. La Serna malt mit
Vorliebe Häuser. Das Dramatische und Ge-
heimnisvolle des Hauses ist noch lange nicht in
der Weise erschöpft worden, wie es bei Früch-
ten, Tellern, Krügen geschehen ist. Und es ist
sehr viel Drama und Geheimnis in den Häusern
La Sernas; denn es sind spanische Häuser. Sie
bauen sich übereinander auf im Verlangen, uns
ihre Fassade zu zeigen, sich uns zu Bewußtsein
zu bringen, ihre geheime Seele und Bedeutung
zu offenbaren. Sie drängen sich in Gruppen
zusammen, denn um sie herum lagert Wüste
und Schweigen. Ein andres Mal haben wir nur
eine einzelne Fassade vor uns mit diesem Gitter-
werk und diesen Baikonen, die so lustig zu
zeichnen sein müssen und in deren Linienspiel
der barocke spanische Geist soviel Phantasie
und Eleganz zu legen weiß.

Und wieviel Phantasie und Eleganz, wieviel
rednerischen Schwung und Pathos weiß La
Serna in die schweren Falten der weißen Lein-
wand, der Vorhänge, der Tischtücher zu legen!
Und oft zaubert er auf den Hintergrund seiner
Bilder unregelmäßige Flächen, wie Blätter oder

Fetzen, die von irgend einem aus Blättern oder
Tuch gemachten Ding abgerissen scheinen, und
ordnet sie mit einem Können und einer Not-
wendigkeit, die überraschen. All dies an Poesie
und freier Eingebung stellt sich mit einer Ord-
nung, einer Fülle, einem Überschwang dar, die
nirgends einenFehleroder eine Lücke aufweisen.

La Serna ist von einer gewaltigen Tradition
getragen: von der Tradition des großen spani-
schen Barock des 17. Jahrhunderts. In ihr lebt
der Geist jenes mächtigen Lyrismus, dessen Stre-
ben so eigenwillig und berauscht war und sich
über alle Hemmungen hinwegsetzte. Wenn er
sich gelegentlich bändigte, so war es nur, um
einen Anlauf zu noch größeren Kühnheiten zu
nehmen. Aber alle diese überraschenden Linien
und gewaltigen Formen führten schließlich in
ihren Widersprüchen selbst zu einer Art von
stolzer Ordnung. Wenn ein barocker Künstler
zu seiner eigenen Schöpfung das entsprechende
Gegengewicht findet, so kommt dies nicht daher,
daß er sich einem von vornherein bestehenden
Gesetz, einer verstandesmäßigen Regel unter-
wirft. Sondern er kennt die Unerschöpflich-
keit seiner Eingebung und ist sicher, jederzeit
in ihr eine neue Chimäre zu finden, die sich an die
alte Chimäre sinnvoll anschließt. Daher können
wir uns bei La Serna auf die köstlichsten Archi-
tekturen gefaßt machen: sie lassen uns schon
vorher an die orientalischen Weltentstehungs-
sagen denken (der Orient ist die eigentliche
Heimat des Barock), nach denen die Welt auf
einem Elefanten ruht, der seinerseits auf einer
Schildkröte steht, die auf vier Säulen liegt. . .
Die Fortsetzung überlasse ich seiner Phantasie.

GEISTIGE VORAUSSETZUNGEN DES KUNSTWERKS

VON WILHELM MICHEL

Alle Kunst hat zunächst ihre allgemeinen
J~\ Gesetze, die für alle Sondergebiete gelten.
Es gibt den „Künstler" als einen von anderen
Menschentypen unterschiedenen Typ. Es gibt
eine allgemeine Psychologie des Kunstschaffens,
des Kunstgenießens. Der Begriff des „Schönen",
der Begriff des „Produzierens", des „Bildens",
im Gegensatz zum bloßen „Reden", ferner der
Begriff des „ästhetischen Verhaltens" und viele
andere mehr — sie alle sind der Kunst über-
haupt angehörig.

Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß
jedes besondere Kunstgebiet darüber hinaus
seine eigenen Vorbedingungen u. Grundbegriffe
hat. Und dies gilt nicht nur für die Verschieden-
heit der Begabungen, sondern es reicht viel
tiefer hinab in jene Region, wo die Grund-
struktur eines Menschen ihre Fundamente hat.

Man sagt wohl: Kunstwerk ist Kunstwerk, ein
Lied kann im selben Sinne und mit demselben
Gewicht Kunstwerk sein wie ein Drama oder
eine große Architektur. Aber dies gilt nur im
Sinne einer sehr primitiven Verwandtschaft.
Damit ein Drama zustande komme, bedarf es
ganz anderer Kräfte als etwa bei einem lyri-
schen Gedicht. Und nicht nur anderer, sondern
auch höherer, mindestens stärkerer Kräfte. Vom
Standpunkt einer primitiven Kunstpsychologie
aus muß es z. B. ganz unverständlich bleiben,
daß Frauen seit jeher im lyrischen Gedicht, in
der Erzählung, sogar in gewissen Bezirken der
Malerei Hervorragendes leisten, dagegen im
Drama, in der Musik, in der Plastik, in der Ar-
chitektur so gut wie völlig unproduktiv sind.
Es ist klar, daß dies mit Dingen der sexuellen
Differenzierung zusammenhängen muß, und
 
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