Fortschritt und Reaktion
330
j. w. müller—wien
die Feststellung eines Fortschrittes hat dann
nur im Hinblick auf die Entwicklung des tech-
nischen Rüstzeuges einen Sinn, also etwa in
den ersten Entwicklungsstadien einer Kunst-
gattung überhaupt oder zu Beginn einer neuen
Epoche, wenn die ersten Gehversuche auf noch
nicht betretenem Neuland mit der für den
Anfang selbstverständlichen Unsicherheit ge-
schehen ; oder bei der Beurteilung, in wieweit der
Künstler seine Konzeption in der Materie zu ge-
stalten vermochte. Versteht man aber den Sinn
der Kunst als Ausgleich und Gegengewicht
gegen die im menschlichen Leben wirksamen
Energien, so hat die Feststellung eines Fort-
schrittes noch am ehesten eine Berechtigung,
und zwar im Hinblicke darauf, wie sich die
Kunst diesen Kräften anzugleichen vermochte.
Ein wichtiges Hilfsmittel dieser Angleichung
ist die Reaktion. Man sehe von der heute all-
gemein üblichen Gleichsetzung dieses Begriffes
mit Rückschritt ab und erinnere sich, daß er in
der Physik nur die ganz allgemeine Feststellung
bedeutet, daß jeder Wirkung eine Gegenwirkung
entspreche. Die gleiche Erscheinung läßt sich
in der Kunst beobachten, wo z. B. eine bestimmte
»kleines speisezimmer«
Kunstrichtung sich in der langen Zeit ihrer Herr-
schaft fürs erste erschöpft hat; oder wo eine
neue Richtung für den Anfang mit den aufs
kräftigste übersteigerten Mitteln gewaltig übers
Ziel schießt, um die Allgemeinheit aus ihrer
Lethargie aufzurütteln. An solchen Punkten
springt die Bedeutung der Reaktion für die
Kunstentwicklung besonders in die Augen.
Denn sie ist es, die auf die Elemente der Kunst-
übung rückverweist, dadurch Auswüchse und
jedes ungesunde Übermaß auf die zuträglichen
Grenzen zurückbringt und auf solche Weise
den Zusammenhang mit den Energien des
Lebens wiederherstellt.
Solcher Art entpuppen sich die Erscheinungen,
die man unter den Namen Fortschritt und Reak-
tion einander gegenüberzustellen pflegt, nicht
als feindliche Mächte, sondern letzten Endes
als Erscheinungsformen e i n e r großen Bewegung,
die eben das Wesen der Kunst ausmacht; eine
Erkenntnis, die darnach angetan ist, der Duld-
samkeit den Weg zu bereiten, wider die man
sich selbst echten Kunstwerken gegenüber so
oft versündigt, wenn sie sich nicht der aktuell-
sten Ausdrucksmittel bedienen, dr. herm. haas.
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j. w. müller—wien
die Feststellung eines Fortschrittes hat dann
nur im Hinblick auf die Entwicklung des tech-
nischen Rüstzeuges einen Sinn, also etwa in
den ersten Entwicklungsstadien einer Kunst-
gattung überhaupt oder zu Beginn einer neuen
Epoche, wenn die ersten Gehversuche auf noch
nicht betretenem Neuland mit der für den
Anfang selbstverständlichen Unsicherheit ge-
schehen ; oder bei der Beurteilung, in wieweit der
Künstler seine Konzeption in der Materie zu ge-
stalten vermochte. Versteht man aber den Sinn
der Kunst als Ausgleich und Gegengewicht
gegen die im menschlichen Leben wirksamen
Energien, so hat die Feststellung eines Fort-
schrittes noch am ehesten eine Berechtigung,
und zwar im Hinblicke darauf, wie sich die
Kunst diesen Kräften anzugleichen vermochte.
Ein wichtiges Hilfsmittel dieser Angleichung
ist die Reaktion. Man sehe von der heute all-
gemein üblichen Gleichsetzung dieses Begriffes
mit Rückschritt ab und erinnere sich, daß er in
der Physik nur die ganz allgemeine Feststellung
bedeutet, daß jeder Wirkung eine Gegenwirkung
entspreche. Die gleiche Erscheinung läßt sich
in der Kunst beobachten, wo z. B. eine bestimmte
»kleines speisezimmer«
Kunstrichtung sich in der langen Zeit ihrer Herr-
schaft fürs erste erschöpft hat; oder wo eine
neue Richtung für den Anfang mit den aufs
kräftigste übersteigerten Mitteln gewaltig übers
Ziel schießt, um die Allgemeinheit aus ihrer
Lethargie aufzurütteln. An solchen Punkten
springt die Bedeutung der Reaktion für die
Kunstentwicklung besonders in die Augen.
Denn sie ist es, die auf die Elemente der Kunst-
übung rückverweist, dadurch Auswüchse und
jedes ungesunde Übermaß auf die zuträglichen
Grenzen zurückbringt und auf solche Weise
den Zusammenhang mit den Energien des
Lebens wiederherstellt.
Solcher Art entpuppen sich die Erscheinungen,
die man unter den Namen Fortschritt und Reak-
tion einander gegenüberzustellen pflegt, nicht
als feindliche Mächte, sondern letzten Endes
als Erscheinungsformen e i n e r großen Bewegung,
die eben das Wesen der Kunst ausmacht; eine
Erkenntnis, die darnach angetan ist, der Duld-
samkeit den Weg zu bereiten, wider die man
sich selbst echten Kunstwerken gegenüber so
oft versündigt, wenn sie sich nicht der aktuell-
sten Ausdrucksmittel bedienen, dr. herm. haas.