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12. Munch
wenige unter seinen Arbeiten geben, die beglücken oder befriedigten
Genuß gewähren; vielmehr erregen sie Befremden, Unruhe, ja
Bestürzung, und sie üben einen kaum entrinnbaren Zwang zur Stel-
lungnahme. Doch sind sie nicht etwa Ausflüsse einer heiß und vul-
kanisch strömenden Leidenschaft, sondern es bleibt immer in ihnen
etwas Rationales, kühl Rechnendes. Seine Art, die Probleme zu
fassen, ist eindeutig und nicht selten geradezu grell. Munch spricht
von Geheimnissen, aber seine Kunst ist nicht geheimnisvoll gleich
der Michelangelos oder Rembrandts.
Aber eben dies Konstruktive in seinem Wesen ist ihm doch wohl
wieder bei seiner Bemühung, sich neue Formen zu schaffen, sehr zu
Hilfe gekommen. Durch seine Gefühlseinstellung der Einheit mit
der Natur entrissen, fand er die Kraft, sich vom Naturalismus ab-
zulösen. Und dies geschah nicht auf die romantische Art, die Natur-
schilderung gefühlsmäßig abzustimmen, sondern es geschah durch
eine radikale Umsetzung des künstlerischen Verhältnisses zur Natur,
indem er deren Formen der naturalistischen Funktionen entlastete
und sie als symbolische, als reine Ausdruckswerte verwandte. Dies
Verfahren ist es, durch das er tief in die europäische Kunst ein-
gegriffen und besonders den germanischen Expressionismus weithin
beeinflußt hat. Neben dem Dänen Thorvaldsen ist Munch der
einzige Künstler des Nordens, der am Schicksale der europäischen
Kunst gesponnen hat.
Als Naturalist hat er begonnen. Freiluftstudien hat er früh be-
trieben; Krohg ist der Lehrer, dem er am meisten verdankt. Die
„Morgenstunde“ von 1884— ein Mädchen beim Ankleiden in fahlem
Morgenlichte auf dem Bette sitzend —, das Bildnis des Boheme-
dichters Hans Jäger von 1889 sind starke Leistungen grau gebroche-
ner Lichtmalerei. Aber schon schlägt er Töne eines gefühlsmäßigen
Erlebens an, die bei den orthodoxen Naturalisten heftigen Wider-
spruch erregten. Das Bildnis seiner Schwester von 1889: in Weiß
gekleidet sitzt sie auf den Blöcken am Strande des weiten unbewegten
kühlblauen Meeres; zwischen Mensch und Natur herrscht eine ge-
heime, gleichsam noch unentschiedene Spannung; eine frei und
phantasievoll schaltende Farbe gibt dem toten Steine Leben. Aus
dem gleichen Jahre „Frühling“: die sorgende Mutter strickend
12. Munch
wenige unter seinen Arbeiten geben, die beglücken oder befriedigten
Genuß gewähren; vielmehr erregen sie Befremden, Unruhe, ja
Bestürzung, und sie üben einen kaum entrinnbaren Zwang zur Stel-
lungnahme. Doch sind sie nicht etwa Ausflüsse einer heiß und vul-
kanisch strömenden Leidenschaft, sondern es bleibt immer in ihnen
etwas Rationales, kühl Rechnendes. Seine Art, die Probleme zu
fassen, ist eindeutig und nicht selten geradezu grell. Munch spricht
von Geheimnissen, aber seine Kunst ist nicht geheimnisvoll gleich
der Michelangelos oder Rembrandts.
Aber eben dies Konstruktive in seinem Wesen ist ihm doch wohl
wieder bei seiner Bemühung, sich neue Formen zu schaffen, sehr zu
Hilfe gekommen. Durch seine Gefühlseinstellung der Einheit mit
der Natur entrissen, fand er die Kraft, sich vom Naturalismus ab-
zulösen. Und dies geschah nicht auf die romantische Art, die Natur-
schilderung gefühlsmäßig abzustimmen, sondern es geschah durch
eine radikale Umsetzung des künstlerischen Verhältnisses zur Natur,
indem er deren Formen der naturalistischen Funktionen entlastete
und sie als symbolische, als reine Ausdruckswerte verwandte. Dies
Verfahren ist es, durch das er tief in die europäische Kunst ein-
gegriffen und besonders den germanischen Expressionismus weithin
beeinflußt hat. Neben dem Dänen Thorvaldsen ist Munch der
einzige Künstler des Nordens, der am Schicksale der europäischen
Kunst gesponnen hat.
Als Naturalist hat er begonnen. Freiluftstudien hat er früh be-
trieben; Krohg ist der Lehrer, dem er am meisten verdankt. Die
„Morgenstunde“ von 1884— ein Mädchen beim Ankleiden in fahlem
Morgenlichte auf dem Bette sitzend —, das Bildnis des Boheme-
dichters Hans Jäger von 1889 sind starke Leistungen grau gebroche-
ner Lichtmalerei. Aber schon schlägt er Töne eines gefühlsmäßigen
Erlebens an, die bei den orthodoxen Naturalisten heftigen Wider-
spruch erregten. Das Bildnis seiner Schwester von 1889: in Weiß
gekleidet sitzt sie auf den Blöcken am Strande des weiten unbewegten
kühlblauen Meeres; zwischen Mensch und Natur herrscht eine ge-
heime, gleichsam noch unentschiedene Spannung; eine frei und
phantasievoll schaltende Farbe gibt dem toten Steine Leben. Aus
dem gleichen Jahre „Frühling“: die sorgende Mutter strickend