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12. Munch

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neben der durch Krankheit gebeugten Tochter; durchs Fenster
strömt ein milder Frühlingswind ein und mit ihm ein zartes Früh-
lingshoffen auf Genesung. So hatte Munch bereits eine Reihe von
reifen Werken geschaffen und sich insbesondere als Koloristen von
sehr fein differenziertem Farbengefühle erwiesen, als er nach Frank-
reich ging. Dort hat er in den Jahren 1890—1892 die Anregungen des
späteren Impressionismus, vornehmlich Pissarros, sowie des Neo-
impressionismus aufgenommen, und er hat südfranzösische Land-
schaften mit sicherer Handhabung der impressionistischen Technik
gemalt. Aber den großen Wendepunkt in seinem Schaffen bilden
die Jahre des Berliner Aufenthaltes seit 1892. In Berlin trat Munch
in nahe Fühlung mit dem Kreise um Strindberg, Dehmel, Schleich,
Przybyzewski u. a., und wenn man auch nicht wohl behaupten
kann, daß dessen Einfluß ihn auf eine neue Bahn geführt hätte, so
hat Munch doch sicher an der in seine eigene einklingenden Ge-
dankenwelt, der er hier begegnete, die in ihm gärenden Vorstel-
lungen bis zur Gestaltungsreife verfestigen können. Und besonders
bindet ihn eine Seelenverwandtschaft mit Strindberg: die Men-
schenwelt, die Munch jetzt schafft, ist gleich der Strindbergs ein
Inferno, ein Pandämonium des Leides und der Verzweiflung; in
tiefer Seelennot sucht der Maler wie der Dichter Erlösung vom
Fluche einer entgötterten Welt. Nun nahm Munch ältere Bild-
motive vor, um sie nach den neu in ihm sich bildenden Auffassungen
umzuformen, und er machte sich an eine große Friesreihe ,yom Leben“.
Wenn Munch mit Pinsel und Griffel „vom Leben“ sprechen wollte,
so hieß das für ihn von den zwei Problemen sprechen, die ihn im
Griffe hatten: vom Tode und von der Liebe.
Viel von Krankheit heimgesucht, hat Munch früh dem Tode ins
Auge geblickt. Er weiß ihn immer in seiner Nähe. Er sieht ihn
hinter allem Leben. Der Tod ist der große Unsichtbare, der die
junge Mädchenblüte knickt, der mit seinem Eiseshauche alles im
Sterbezimmer mit lähmendem Schrecken schlägt. Aber das ganze
Leben ist ein Sterbezimmer. Der Tod ist die Wirklichkeit, das
Leben ein gespenstischer Totentanz. Der Tod ist im Spielsaale;
der Tod ist auf der Straße, die eine Prozession lebender Leichen
durchwandelt; er ist auf der Brücke neben dem Mädchen, dessen
 
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