58 Eine sonderbare Krankheit.
wohl nicht hier, — aber Sie können diese Erfahrung doch
nur durch einen Versuch gemacht haben, und bei diesem
Versuche müssen Sie doch wohl Schmerzen gehabt haben,
und wie diese waren, das möchte ich wissen."
„Ich kann ja gar nicht auftreten — und darum
habe ich auch keinen Versuch gemacht, was ja ganz frucht-
los gewesen wäre."
„Das muß aber sein, liebes Kind! Ich komme heute
Mittag wieder, — macken Sic einen Versuch und sagen
Sic mir dann, wie Ihre Schmerzen sind!"
Mit diesen Worrcn empfahl sich der Gehcimrath und
ließ die beiden Mädchen allein, welche viele Thräncn darüber
vergossen, daß es ihnen auch in Wiesbaden so schlimm gehe!
„Was ist aber zu thun?" fragte zuletzt die gesunde
Schwester, „wir müssen doch einen Versuch machen, sonst
I wird der Herr Geheimrath böse und läßt uns im Stiche,
! und wir haben die Heimreise für die Herreise." — „Ich
kann aber doch nicht," crwicdcrte die Schwester weinend,
! „Du weißt es ja, daß ich leider nicht kann." — „Du
: kannst nicht gehen, das weiß ich wohl, aber einen Versuch
! können wir machen. So wie es Dich schmerzt, hören wir
j auf, wir können dann aber doch dem Geheimrathe antworten."
! Damit ergriff sie sanft die leidende Schwester und hob sie
I an den Rand des Bettes und drehte ihren Körper nun so
j herum, daß die Beine heraushingen; diese nahm sie nun
| in ihre Hände und ließ sie sanft herab auf den Boden. Nun
hob sie die Schwester in die Höhe und ließ sie leicht auf dem
Boden aufstehen.
„So, wie cs Dir wehe thut, sage es mir." — „Ach
es thut mir nicht weh, Du weißt es ja, daß ich gar keine
Empfindung an den Füßen habe!"
Die Kranke stand nun fest auf ihren Füßen, aber mit
unverkennbar großer Angst, während die Schwester sic nur
an den Händen hielt.
„Probire jetzt einmal, einen Schritt zu machen." —
„Ach, warum nicht gar — ich kann ja nicht."
„So probire es doch nur einmal, daß wir es dem Ge-
heimrathe heut Mittag erzählen können."
Endlich probirte die Kranke mit Zittern und Zagen
einen kleinen Schritt — immer an der Hand der Schwester,
_ dann noch einen und noch einen und so fort, bis sic an
das Ende des Zimmers kam. Nun ließ die Schwester sie
los — sic mußte ohne Hilfe nach dem Bette zurückgehen —
cs ging vortrefflich.
„Was wird der Geheimrath dazu sagen?"
Er sagte nichts dazu, denn ehe er kam, waren die Mäd-
chen schon wieder auf dem Wege in die Hcimath, — und
rührend war es zu sehen, wie das Mädchen, das acht lange
Jahre, in der Meinung, sie sei eontract, im Bette liegend
zugebracht hatte, von nun an mit einer außerordentlichen
Hast umherlief, als ob sie das Versäumte nachholen wollte.
Mißverständnisse.
(Schluß.)
Nachdem ich ein Paar Bekannte unter der nicht zahlreichen
Gesellschaft erblickt und begrüßt hatte, (um mich doch nicht
selbst Lügen zu strafen) blieb ich mit meiner Frau, die plötz-
lich in die liebenswürdigste Laune versetzt war, bei meinen,
mir so unschuldigcrweise verpflichtet gewordenen neuen Freunden
sitzen, und der heiterste, ja glücklichste Abend folgte einem
Tage, der nicht ohne meine Schuld der peinlichen Augenblicke
so viele für mich gehabt. So spät wie möglich, trennte ich
mich von meiner guten Frau, und fuhr mit meinen Gästen
— dem Lammwirth und seinem rothhaarigcn „Rikele" »ach
Brunncnthal zurück. Johann wußte mir auf meine Fragen
keine weitere Aufklärung zu geben als die: Christian habe
ihm meinen Befehl, Punkt zwölf Uhr den Lammwirth und
seine Tochter nach Louisen Hof zu führen, überbracht, da er,
Christian, aber in eigener Person die Ankunft des Wagens
dem Herrn Lammwirth gemeldet, so wisse er, Johann, nichts
weiter, als daß Vater und Tochter scclenvcrgnügt geschienen
hätten, und Ersterer meine Braunen bis in den Himmel er-
hoben habe.
Erst nachdem ich den eigentlichen Urheber dieses wahr-
haften Geniestreiches zu Rede gesetzt, ward mir die Sache
ganz klar. Ich vergaß zu berichten, daß ich meine Pferde
in der Stallung des Gasihvss zum Lamm untcrgebracht hatte,
der dicke Wirth daselbst, ein guter jovialer Mann, war ein
großer Bewunderer der beiden Wagenpferde, und im Beisein
des Geniss hatte ich ihm halb im Scherz eines Tages den
Vorschlag gemacht, ihre Vortrefflichkcit einmal selbst zu erpro-
ben. Als ich Christian den bewußten Auftrag crtheilt, mochte
das Bild des Lammwirths und die Erinnerung an jenes An-
wohl nicht hier, — aber Sie können diese Erfahrung doch
nur durch einen Versuch gemacht haben, und bei diesem
Versuche müssen Sie doch wohl Schmerzen gehabt haben,
und wie diese waren, das möchte ich wissen."
„Ich kann ja gar nicht auftreten — und darum
habe ich auch keinen Versuch gemacht, was ja ganz frucht-
los gewesen wäre."
„Das muß aber sein, liebes Kind! Ich komme heute
Mittag wieder, — macken Sic einen Versuch und sagen
Sic mir dann, wie Ihre Schmerzen sind!"
Mit diesen Worrcn empfahl sich der Gehcimrath und
ließ die beiden Mädchen allein, welche viele Thräncn darüber
vergossen, daß es ihnen auch in Wiesbaden so schlimm gehe!
„Was ist aber zu thun?" fragte zuletzt die gesunde
Schwester, „wir müssen doch einen Versuch machen, sonst
I wird der Herr Geheimrath böse und läßt uns im Stiche,
! und wir haben die Heimreise für die Herreise." — „Ich
kann aber doch nicht," crwicdcrte die Schwester weinend,
! „Du weißt es ja, daß ich leider nicht kann." — „Du
: kannst nicht gehen, das weiß ich wohl, aber einen Versuch
! können wir machen. So wie es Dich schmerzt, hören wir
j auf, wir können dann aber doch dem Geheimrathe antworten."
! Damit ergriff sie sanft die leidende Schwester und hob sie
I an den Rand des Bettes und drehte ihren Körper nun so
j herum, daß die Beine heraushingen; diese nahm sie nun
| in ihre Hände und ließ sie sanft herab auf den Boden. Nun
hob sie die Schwester in die Höhe und ließ sie leicht auf dem
Boden aufstehen.
„So, wie cs Dir wehe thut, sage es mir." — „Ach
es thut mir nicht weh, Du weißt es ja, daß ich gar keine
Empfindung an den Füßen habe!"
Die Kranke stand nun fest auf ihren Füßen, aber mit
unverkennbar großer Angst, während die Schwester sic nur
an den Händen hielt.
„Probire jetzt einmal, einen Schritt zu machen." —
„Ach, warum nicht gar — ich kann ja nicht."
„So probire es doch nur einmal, daß wir es dem Ge-
heimrathe heut Mittag erzählen können."
Endlich probirte die Kranke mit Zittern und Zagen
einen kleinen Schritt — immer an der Hand der Schwester,
_ dann noch einen und noch einen und so fort, bis sic an
das Ende des Zimmers kam. Nun ließ die Schwester sie
los — sic mußte ohne Hilfe nach dem Bette zurückgehen —
cs ging vortrefflich.
„Was wird der Geheimrath dazu sagen?"
Er sagte nichts dazu, denn ehe er kam, waren die Mäd-
chen schon wieder auf dem Wege in die Hcimath, — und
rührend war es zu sehen, wie das Mädchen, das acht lange
Jahre, in der Meinung, sie sei eontract, im Bette liegend
zugebracht hatte, von nun an mit einer außerordentlichen
Hast umherlief, als ob sie das Versäumte nachholen wollte.
Mißverständnisse.
(Schluß.)
Nachdem ich ein Paar Bekannte unter der nicht zahlreichen
Gesellschaft erblickt und begrüßt hatte, (um mich doch nicht
selbst Lügen zu strafen) blieb ich mit meiner Frau, die plötz-
lich in die liebenswürdigste Laune versetzt war, bei meinen,
mir so unschuldigcrweise verpflichtet gewordenen neuen Freunden
sitzen, und der heiterste, ja glücklichste Abend folgte einem
Tage, der nicht ohne meine Schuld der peinlichen Augenblicke
so viele für mich gehabt. So spät wie möglich, trennte ich
mich von meiner guten Frau, und fuhr mit meinen Gästen
— dem Lammwirth und seinem rothhaarigcn „Rikele" »ach
Brunncnthal zurück. Johann wußte mir auf meine Fragen
keine weitere Aufklärung zu geben als die: Christian habe
ihm meinen Befehl, Punkt zwölf Uhr den Lammwirth und
seine Tochter nach Louisen Hof zu führen, überbracht, da er,
Christian, aber in eigener Person die Ankunft des Wagens
dem Herrn Lammwirth gemeldet, so wisse er, Johann, nichts
weiter, als daß Vater und Tochter scclenvcrgnügt geschienen
hätten, und Ersterer meine Braunen bis in den Himmel er-
hoben habe.
Erst nachdem ich den eigentlichen Urheber dieses wahr-
haften Geniestreiches zu Rede gesetzt, ward mir die Sache
ganz klar. Ich vergaß zu berichten, daß ich meine Pferde
in der Stallung des Gasihvss zum Lamm untcrgebracht hatte,
der dicke Wirth daselbst, ein guter jovialer Mann, war ein
großer Bewunderer der beiden Wagenpferde, und im Beisein
des Geniss hatte ich ihm halb im Scherz eines Tages den
Vorschlag gemacht, ihre Vortrefflichkcit einmal selbst zu erpro-
ben. Als ich Christian den bewußten Auftrag crtheilt, mochte
das Bild des Lammwirths und die Erinnerung an jenes An-
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Mißverständnisse"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Public Domain Mark 1.0
Creditline
Fliegende Blätter, 32.1860, Nr. 764, S. 58
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg