Ein M ißverständn iß.
revidirte, fuhr cr Herrn Löbel Blumenstiel mit einer wahren
Donnerstimme an und zog ihn sogar am Rockkragen aus dem
Wagen, weil dieser im Begriff war, nach Berlin abzufahren.
Diese Grobheit und das Gelächter der übrigen Passa-
gicre aber hatte Blumenstiel noch nicht vergessen und da er
den Entschluß gefaßt, sich nicht wieder ähnlichen Unannehm-
lichkeiten auszusetzen, so dachte er auch jetzt: „Was kann da
sein? Wenn der Condoktör sagt, ä Jidchen aussteigen! —
uub es iS außer meiner kahn ander Jidchen do, so kann cr
doch blos mir meinen!"
Ohne weiteres Besinnen nahm also Blumenstiel seine
Reisetasche und verließ eiligst das Coupv. Gleich nachher
drauste aber auch schon der Zug weiter.
Da stand nun Blumenstiel mit der Reisetasche in der
Hand auf dem öden Perron und sah dem dahineilcnden Zuge
nach. Dann aber kam ihm ganz natürlicher Weise auch der
Gedanke: was er eigentlich hier auf dieser kleinen Zwischen-
siation solle, denn cr wußte recht wohl, daß er an seinem
Bestimmungsorte Chemnitz noch nicht angelangt sein könne.
3» die Restauration zu gehen und dort Erkundigungen an-
! zustcllc», hatte Blumenstiel keine Neigung, denn er fürchtete,
dann auch dort etwas verzehren zu müssen und Blumenstiel
fühlte nicht den geringsten Appetit. Bahnbeamte aber waren
auch nicht in der Nähe, dcßhalb beschloß unser Handelsmann,
j also vorläufig hier ruhig des Kommenden zu harren. Dieses
Kommende ließ auch nicht lange auf sich warten, denn noch
war keine Viertelstunde vergangen, so nahte ein Personenzug
von der entgegengesetzten Seite und hielt hier auf der Station.
Die Condukteure sprangen ab; einer derselben öffnete
! g'rade in Blumenstiels unmittelbarer Nähe eine Wagenthürc
und rief: „Fünf Minuten Aufenthalt! — Äjiedchen
oin steigen!"
Bei diesen Worten sah sich Blumenstiel wieder um und
abermals sah er keinen andern Glaubensgcnoffen in seiner
| Rähc, dem diese Aufforderung hätte gelten können.
„Hob ich Mer's doch gedenkt, daß es so kommen müffe!"
sprach Blumenstiel zu sich selbst und stieg ohne Weiteres in
den Wagen. Gleich darauf wurde die Thürc zugeschlagcn
und bald setzte sich der Zug in Bewegung, aber kaum war
Blumenstiel einige Minuten gefahren, so wollte es ihm doch
Vorkommen, als ginge es rückwärts auf dem vorhin ge-
I wachten Wege. Diese Bemerkung beunruhigte zwar den Handels-
' uiann ein wenig, doch tröstete er sich damit, daß er wohl
auch irren könne. Auf der nächsten Station sollte ihm jedoch
Rufklärung werden; der Eondukteur wollte die Fahrbilletö
der Reisenden sehen und als Blumenstiel nun auch das seinigc
| darreichte, da gcricth der Beamte in gewaltigen Zorn.
„Das Billet gilt nicht, Marsch, heraus!" donnerte der
! Eondukteur.
„Wie haißt: Marsch raus?" rief Blumenstiel entsetzt,
! --hob ich doch bezahlt, bis Chemnitz zu fahren!"
„Dieser Zug geht aber nach Leipzig und vor Allem
«Nüssen Sic die jetzt gefahrene Tour nachzahlcn," befahl der
Eondukteur. Als sich aber Blumenstiel desien weigerte, nahm
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ihn der Eondukteur — grad wie der in Kohlfurt — beim Kra-
gen und führte ihn mit Gewalt zum Caffircr, der glücklicher
Weise etwas hösticher war und nach angehörtem Berichte dem
Handelsmann auseinandcrsetzte, daß der Ruf: Egidien aus-
steigen — Egidien einsteigen! — nicht ihm gegolten
habe, sondern daß jener Stationsort Sankt Egidien heiße.
Was half das aber Alles? Nachzahl en mußte Blumen- i
stiel dennoch und auch ein neues Fahrbillet bis Chemnitz !
mußte er kaufen. Nach einigen Stunden konnte cr dann mit
dem nächsten Zuge die unterbrochene Fahrt fortsctzcn. Als
er jetzt wieder auf der Station Sankt Egidien anlangtc, wo
abermals die Thürcn der Waggons sich aufthaten und wie-
derum der Eondukteur rief: „Äjiedchen aussteigen!" — da
drückte sich Blumenstiel fest in die Ecke und murmelte vor
sich hin: „Jetzt schreit so viel Ihr wullt — de missa meschune
(schwere Noth) aff Euch! Schreit von mcinerthalben: ä
Jidchen soll ausstcigen — de ganze Jidenschaft soll
auösteigen — der Löbel Blumenstiel bleibt sitzen!"
Sprüchwörter mit Commentar.
Noth bricht Eisen — bräch' sie nur das Eisen
Wäre das so schlimm noch nicht —
Doch gar trüb ist, daß die Noth auch Tugend,
Daß die Noth auch Herzen bricht.
O ja, die Noth lehrt beten,
Und das wär' schon was Werth,
Doch trüb ist, daß die Noth
Viel öfter fluchen lehrt.
Wenn die Noth am höchsten ist,
Ist die Hilf' am Nächsten;
Das Sprüchwort ist nicht leer —
Doch bricht das Herz wohl früher,
Und wenn dann die Noth am Höchsten
Nützt keine Hilfe mehr.
revidirte, fuhr cr Herrn Löbel Blumenstiel mit einer wahren
Donnerstimme an und zog ihn sogar am Rockkragen aus dem
Wagen, weil dieser im Begriff war, nach Berlin abzufahren.
Diese Grobheit und das Gelächter der übrigen Passa-
gicre aber hatte Blumenstiel noch nicht vergessen und da er
den Entschluß gefaßt, sich nicht wieder ähnlichen Unannehm-
lichkeiten auszusetzen, so dachte er auch jetzt: „Was kann da
sein? Wenn der Condoktör sagt, ä Jidchen aussteigen! —
uub es iS außer meiner kahn ander Jidchen do, so kann cr
doch blos mir meinen!"
Ohne weiteres Besinnen nahm also Blumenstiel seine
Reisetasche und verließ eiligst das Coupv. Gleich nachher
drauste aber auch schon der Zug weiter.
Da stand nun Blumenstiel mit der Reisetasche in der
Hand auf dem öden Perron und sah dem dahineilcnden Zuge
nach. Dann aber kam ihm ganz natürlicher Weise auch der
Gedanke: was er eigentlich hier auf dieser kleinen Zwischen-
siation solle, denn cr wußte recht wohl, daß er an seinem
Bestimmungsorte Chemnitz noch nicht angelangt sein könne.
3» die Restauration zu gehen und dort Erkundigungen an-
! zustcllc», hatte Blumenstiel keine Neigung, denn er fürchtete,
dann auch dort etwas verzehren zu müssen und Blumenstiel
fühlte nicht den geringsten Appetit. Bahnbeamte aber waren
auch nicht in der Nähe, dcßhalb beschloß unser Handelsmann,
j also vorläufig hier ruhig des Kommenden zu harren. Dieses
Kommende ließ auch nicht lange auf sich warten, denn noch
war keine Viertelstunde vergangen, so nahte ein Personenzug
von der entgegengesetzten Seite und hielt hier auf der Station.
Die Condukteure sprangen ab; einer derselben öffnete
! g'rade in Blumenstiels unmittelbarer Nähe eine Wagenthürc
und rief: „Fünf Minuten Aufenthalt! — Äjiedchen
oin steigen!"
Bei diesen Worten sah sich Blumenstiel wieder um und
abermals sah er keinen andern Glaubensgcnoffen in seiner
| Rähc, dem diese Aufforderung hätte gelten können.
„Hob ich Mer's doch gedenkt, daß es so kommen müffe!"
sprach Blumenstiel zu sich selbst und stieg ohne Weiteres in
den Wagen. Gleich darauf wurde die Thürc zugeschlagcn
und bald setzte sich der Zug in Bewegung, aber kaum war
Blumenstiel einige Minuten gefahren, so wollte es ihm doch
Vorkommen, als ginge es rückwärts auf dem vorhin ge-
I wachten Wege. Diese Bemerkung beunruhigte zwar den Handels-
' uiann ein wenig, doch tröstete er sich damit, daß er wohl
auch irren könne. Auf der nächsten Station sollte ihm jedoch
Rufklärung werden; der Eondukteur wollte die Fahrbilletö
der Reisenden sehen und als Blumenstiel nun auch das seinigc
| darreichte, da gcricth der Beamte in gewaltigen Zorn.
„Das Billet gilt nicht, Marsch, heraus!" donnerte der
! Eondukteur.
„Wie haißt: Marsch raus?" rief Blumenstiel entsetzt,
! --hob ich doch bezahlt, bis Chemnitz zu fahren!"
„Dieser Zug geht aber nach Leipzig und vor Allem
«Nüssen Sic die jetzt gefahrene Tour nachzahlcn," befahl der
Eondukteur. Als sich aber Blumenstiel desien weigerte, nahm
127
ihn der Eondukteur — grad wie der in Kohlfurt — beim Kra-
gen und führte ihn mit Gewalt zum Caffircr, der glücklicher
Weise etwas hösticher war und nach angehörtem Berichte dem
Handelsmann auseinandcrsetzte, daß der Ruf: Egidien aus-
steigen — Egidien einsteigen! — nicht ihm gegolten
habe, sondern daß jener Stationsort Sankt Egidien heiße.
Was half das aber Alles? Nachzahl en mußte Blumen- i
stiel dennoch und auch ein neues Fahrbillet bis Chemnitz !
mußte er kaufen. Nach einigen Stunden konnte cr dann mit
dem nächsten Zuge die unterbrochene Fahrt fortsctzcn. Als
er jetzt wieder auf der Station Sankt Egidien anlangtc, wo
abermals die Thürcn der Waggons sich aufthaten und wie-
derum der Eondukteur rief: „Äjiedchen aussteigen!" — da
drückte sich Blumenstiel fest in die Ecke und murmelte vor
sich hin: „Jetzt schreit so viel Ihr wullt — de missa meschune
(schwere Noth) aff Euch! Schreit von mcinerthalben: ä
Jidchen soll ausstcigen — de ganze Jidenschaft soll
auösteigen — der Löbel Blumenstiel bleibt sitzen!"
Sprüchwörter mit Commentar.
Noth bricht Eisen — bräch' sie nur das Eisen
Wäre das so schlimm noch nicht —
Doch gar trüb ist, daß die Noth auch Tugend,
Daß die Noth auch Herzen bricht.
O ja, die Noth lehrt beten,
Und das wär' schon was Werth,
Doch trüb ist, daß die Noth
Viel öfter fluchen lehrt.
Wenn die Noth am höchsten ist,
Ist die Hilf' am Nächsten;
Das Sprüchwort ist nicht leer —
Doch bricht das Herz wohl früher,
Und wenn dann die Noth am Höchsten
Nützt keine Hilfe mehr.
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
Ein Mißverständniß"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Thema/Bildinhalt (normiert)
Conducteur <Motiv>
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Public Domain Mark 1.0
Creditline
Fliegende Blätter, 47.1867, Nr. 1162, S. 127
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg