HÄRMEN THIES
59 Halle mit Prieche und Südempore (Gruftkapelle) des
Querriegels.
Ausführung hatte die Halle nicht allein durch be-
sondere, sich nach Aufbau und Bildung deutlich
absetzende, den stereometrisch klaren Formen
„purer“ Architekturelemente fernere Hermen-, ja
Figurenpfeiler ausgezeichnet werden, sondern ihr
Mittelschiff auch schmaler, die Seitenschiffe ent-
sprechend breiter, beide einander ähnlicher werden
sollen. Die Gewölbefelder wären annähernd gleich
groß geworden und die Hermenpfeiler hätten
deutlicher als heute die Sonderstellung der weniger
dreischiffigen als saalartigen, von der Nord- zur
Südwand sich breitenden und durch den Horizont
der klar im Rechteck angeordneten Emporenbrü-
stungen umgrenzten Halle vor Augen gestellt. Zu
dieser ersten, sich gegen die traditionelle Auszeich-
nung der Haupt- und Längsachse stellenden Kon-
zeption einer breit und weit sich öffnenden zentra-
len Raumeinheit gehört, daß die längs wie quer
gleichartig gebildeten Gewölbe nur mit den Her-
menpfeilern unmittelbar auf dem Boden zu fußen
scheinen, sonst aber auf Kämpferhöhe durch
eigene Trag- und Gelenkstücke mit den planen,
ihnen „fremden“ Massiven der Außenmauern und
der Turm- bzw. „Emporenhaus“-Pfeiler zu ver-
binden waren, auch — wiederum anders als heute —
in den Raumwinkeln. Und dazu gehört nicht zu-
letzt die für diese Konzeption aufschlußreiche Be-
obachtung, daß Weg und Blick vom Hauptportal
im Westen zum Chor im Osten durch eine mittig
unter der Orgelempore aufgestellte Priechensäule
gesperrt und also gebrochen werden sollte.
Daß Francke selbst für diese Änderungen seines
schönen, konzeptionell ebenso wie konstruktiv, im
Vergleich mit der Ausführung, konsequenteren
Entwurfes verantwortlich sei, ist eher unwahr-
scheinlich. Man möchte vielmehr denken, daß erst
nach seinem Tod die weniger differenzierten, kon-
ventionellen Vorstellungen näheren Achtseitpfei-
ler, ihre nach außen gerückte Position, ihre mächti-
gen Blockkapitelle und die ihnen nachgebildeten,
schweren Wandkonsolen gezeichnet und realisiert
worden sind. Auch die spärlichen Baunachrichten
können diese Ansicht nur stützen. Jedoch: Die Än-
derungen am Turm (vielleicht) und das Verrücken
der Langseitenportale (gewiß) müssen schon zu
Lebzeiten Franckes beschlossen worden sein, so
daß die Frage nach dem (oder den) „Planwech-
sel(n)“ wohl kaum abschließend zu beantworten
ist.
Entwurf und Bau der Marienkirche zeigen, daß
die Architektur Paul Franckes nach den geläufigen
Termini zur Bestimmung des Mittelalterlich-Goti-
schen oder des Neuzeitlichen der Renaissance, des
Manierismus oder des Barock kaum zu beschrei-
ben ist. Momente und Formen des einen wie des
anderen waren zu beobachten, wobei zwei Merk-
male als Konstanten auffallen mußten:
Zum einen konnte offensichtlich sehr frei und
gleichzeitig kundig über das Aufgreifen, Auswäh-
len, Umformen und Mischen einzelner Formen und
Formenkomplexe entschieden werden, zunächst
wohl unabhängig von der Frage nach ihrer Her-
kunft, entweder aus der eigenen, gotisch geprägten
Tradition, oder aus der durch Renaissance und Ma-
nierismus bestimmten, humanistisch gelehrten
Kunst der „welschen“ Italiener und Franzosen.
Diese war und wurde im späten 16. Jahrhundert
ebenso durch Stichwerke und Traktate — jetzt auch
deutscher Herkunft — wie durch das nahe Vorbild
und allgegenwärtige Beispiel niederländischer Ar-
chitekten und Dekorationskünstler vermittel. Da-
bei darf nicht vergessen werden, daß Albrecht Dü-
rer frühzeitig die Formenwelt der norditalienisch-
venezianischen Kunst bis auf den Grund studiert
und seinem eigenen Werk ein-gebildet hatte. In sei-
ner Kunst allein auf sich gestellt, hatte er das Fun-
dament für eine spezifisch deutsche Renaissance
gelegt, die weniger durch ihre Orientierung am Sy-
stem und den Formen der römisch-antiken, von
der italienischen Kunst des 15. und 16. Jahrhun-
derts zu neuer Geltung gebrachten Ordnungen als
durch ihr ungebundenes, nicht gotisches und auch
nicht italienisierendes, bei Dürer zudem außeror-
dentlich gestaltmächtiges Fügen von Elementen
verschiedenster Herkunft zu Mischbildungen ganz
neuer Art bestimmt ist. Mindestens so wichtig wie
Italien wurden im Norden die Bildarchitekturen
und Architekturbilder Dürers.
Das „freie“ Wählen der — häufig sehr heteroge-
74
59 Halle mit Prieche und Südempore (Gruftkapelle) des
Querriegels.
Ausführung hatte die Halle nicht allein durch be-
sondere, sich nach Aufbau und Bildung deutlich
absetzende, den stereometrisch klaren Formen
„purer“ Architekturelemente fernere Hermen-, ja
Figurenpfeiler ausgezeichnet werden, sondern ihr
Mittelschiff auch schmaler, die Seitenschiffe ent-
sprechend breiter, beide einander ähnlicher werden
sollen. Die Gewölbefelder wären annähernd gleich
groß geworden und die Hermenpfeiler hätten
deutlicher als heute die Sonderstellung der weniger
dreischiffigen als saalartigen, von der Nord- zur
Südwand sich breitenden und durch den Horizont
der klar im Rechteck angeordneten Emporenbrü-
stungen umgrenzten Halle vor Augen gestellt. Zu
dieser ersten, sich gegen die traditionelle Auszeich-
nung der Haupt- und Längsachse stellenden Kon-
zeption einer breit und weit sich öffnenden zentra-
len Raumeinheit gehört, daß die längs wie quer
gleichartig gebildeten Gewölbe nur mit den Her-
menpfeilern unmittelbar auf dem Boden zu fußen
scheinen, sonst aber auf Kämpferhöhe durch
eigene Trag- und Gelenkstücke mit den planen,
ihnen „fremden“ Massiven der Außenmauern und
der Turm- bzw. „Emporenhaus“-Pfeiler zu ver-
binden waren, auch — wiederum anders als heute —
in den Raumwinkeln. Und dazu gehört nicht zu-
letzt die für diese Konzeption aufschlußreiche Be-
obachtung, daß Weg und Blick vom Hauptportal
im Westen zum Chor im Osten durch eine mittig
unter der Orgelempore aufgestellte Priechensäule
gesperrt und also gebrochen werden sollte.
Daß Francke selbst für diese Änderungen seines
schönen, konzeptionell ebenso wie konstruktiv, im
Vergleich mit der Ausführung, konsequenteren
Entwurfes verantwortlich sei, ist eher unwahr-
scheinlich. Man möchte vielmehr denken, daß erst
nach seinem Tod die weniger differenzierten, kon-
ventionellen Vorstellungen näheren Achtseitpfei-
ler, ihre nach außen gerückte Position, ihre mächti-
gen Blockkapitelle und die ihnen nachgebildeten,
schweren Wandkonsolen gezeichnet und realisiert
worden sind. Auch die spärlichen Baunachrichten
können diese Ansicht nur stützen. Jedoch: Die Än-
derungen am Turm (vielleicht) und das Verrücken
der Langseitenportale (gewiß) müssen schon zu
Lebzeiten Franckes beschlossen worden sein, so
daß die Frage nach dem (oder den) „Planwech-
sel(n)“ wohl kaum abschließend zu beantworten
ist.
Entwurf und Bau der Marienkirche zeigen, daß
die Architektur Paul Franckes nach den geläufigen
Termini zur Bestimmung des Mittelalterlich-Goti-
schen oder des Neuzeitlichen der Renaissance, des
Manierismus oder des Barock kaum zu beschrei-
ben ist. Momente und Formen des einen wie des
anderen waren zu beobachten, wobei zwei Merk-
male als Konstanten auffallen mußten:
Zum einen konnte offensichtlich sehr frei und
gleichzeitig kundig über das Aufgreifen, Auswäh-
len, Umformen und Mischen einzelner Formen und
Formenkomplexe entschieden werden, zunächst
wohl unabhängig von der Frage nach ihrer Her-
kunft, entweder aus der eigenen, gotisch geprägten
Tradition, oder aus der durch Renaissance und Ma-
nierismus bestimmten, humanistisch gelehrten
Kunst der „welschen“ Italiener und Franzosen.
Diese war und wurde im späten 16. Jahrhundert
ebenso durch Stichwerke und Traktate — jetzt auch
deutscher Herkunft — wie durch das nahe Vorbild
und allgegenwärtige Beispiel niederländischer Ar-
chitekten und Dekorationskünstler vermittel. Da-
bei darf nicht vergessen werden, daß Albrecht Dü-
rer frühzeitig die Formenwelt der norditalienisch-
venezianischen Kunst bis auf den Grund studiert
und seinem eigenen Werk ein-gebildet hatte. In sei-
ner Kunst allein auf sich gestellt, hatte er das Fun-
dament für eine spezifisch deutsche Renaissance
gelegt, die weniger durch ihre Orientierung am Sy-
stem und den Formen der römisch-antiken, von
der italienischen Kunst des 15. und 16. Jahrhun-
derts zu neuer Geltung gebrachten Ordnungen als
durch ihr ungebundenes, nicht gotisches und auch
nicht italienisierendes, bei Dürer zudem außeror-
dentlich gestaltmächtiges Fügen von Elementen
verschiedenster Herkunft zu Mischbildungen ganz
neuer Art bestimmt ist. Mindestens so wichtig wie
Italien wurden im Norden die Bildarchitekturen
und Architekturbilder Dürers.
Das „freie“ Wählen der — häufig sehr heteroge-
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