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Die Hauptkirche Beatae Mariae Virginis in Wolfenbüttel — Forschungen der Denkmalpflege in Niedersachsen, Band 4: Hameln: Verlag C.W. Niemeyer, 1987

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ZU BAU UND ENTWURF

den Bildarchitekturen Dürers oder der „Schönen
Maria“ Hans Hiebers in Regensburg früh zu fassen
und — unabhängig von regionalen Eingrenzungen
— bis in das frühe 17. Jahrhundert zu verfolgen
ist.281 Die Augsburger und Nürnberger Bauten der
Joseph Heintz, Elias Holl und Jakob Wolf stehen
ebenso am Ende dieser Entwicklung wie sie gleich-
zeitig auf Neues hinweisen, das wegen des dreißig-
jährigen Krieges nicht mehr zur vollen Entfaltung
kommen sollte.29-1 Obwohl Hermann Vischer (II)
frühzeitig und korrekt im Nürnberg Dürers Archi-
tekturen der venezianischen Frührenaissance ge-
zeichnet hatte und immer wieder Beispiele eindeu-
tig „italienischer“ Architektur errichtet wurden,
für die die Ordnungen konstitutiv zu nennen
sind (die Bauten der Residenz in Landshut,
1536—1543, Alessandro Pasqualinis Zitadelle in
Jülich, 1552 — 1553), obwohl also „richtige“ Re-
naissancearchitektur durchaus bekannt war, ja vor
Augen stand, ist der stückende Aufbau von archi-
tektonischen Teilfiguren aus vereinzelten, ihrer-
seits gestückten, zuweilen geradezu collagierten
Elementen heterogener Herkunft vorherrschend
geblieben.30’ Das in den Ordnungen dargestellte
und sich realisierende Moment anschaulicher Glie-
derung, Zuordnung und Proportionierung wurde
— abgesehen von den zitierten Ausnahmen —
selbst dann nicht wahrgenommen und genutzt,
wenn Elemente und Grundfiguren dieses Systems
der eigenen Architektur eingegliedert oder als aus-
zeichnende Sonderstücke zugesellt wurden. Träger
der Architektur blieben die Fronten und Gründe
bildenden, glattwandig-scharfkantigen, vollkom-
men ungegliederten Baukörper und Raumgehäuse,
die auch für die Marienkirche so wichtig sind. Sie,
nicht die Ordnungen, sind als die konstitutiven
„Einheiten“ des Entwerfens und Bauens im 16. und
frühen 17. Jahrhundert zu erkennen.31’
Diesen kubisch-planen „Einheiten“ wurde das
Gliedersystem der Ordnungen oder des Beschlag-
werks — kennzeichnend genug ist das Wort —
schichtend, ein- und vorstehend zugesellt. Dies
selbst wurde dann im Sinne gestückter, je nach
Ausrichtung abermals Fronten aufbauender Kom-
binationsfiguren gebildet. Ein Vergleich mag die
allgemeine Gültigkeit dieses Vorgehens erweisen:
Die Fronten und Ecken der quadratischen Kapi-
tellblöcke auf den achtseitigen Pfeilern der Ma-
rienkirche sind mit isolierten „Laschenkonsolen“
besetzt, mit Einzelstücken also, die die acht Pfeiler-
und vier Kapitellseiten zu je einer, von den anderen
wohlgeschiedenen „Front“ erklären. Gerade in
dieser Hinsicht können sie mit den — z.T. zerstör-
ten — ebenfalls achtseitigen Hofpfeilern des Peiler-
hauses in Nürnberg verglichen werden. Deren vier
Diagonalseiten waren isoliert und Stück für Stück
eigene Volutenkonsolen aufgesetzt, die quadrati-
sche Kämpferplatten zu stützen und so eine Kapi-

tellbildung zu suggerieren hatten, die tatsächlich
nur aus vereinzelten Elementen „kombiniert“ und
nicht als einheitliche Form dem Pfeilerschaft aufge-
setzt war. Nicht die figürliche Einheit, einer „klas-
sischen“ Säule etwa, „gliedert sich“ in Basis, Schaft
und Kapitell, sondern ein einfacher, kubisch-pla-
ner Grundkörper wird mit Stückwerk besetzt, das
Gliederwerk der Stütze aus unterschiedlichen Ele-
menten zusammengesetzt. Kombinationsgebilde
dieser Art beherrschen das Bild der nordeuropäi-
schen Architektur im 16. Jahrhundert. Für diese
Art des Vorgehens wie überhaupt für die Einzel-
heiten der von Francke gezeichneten Beschlag-
werks-Architektur können in erster Linie Trak-
tate, Stichwerke und Bauten der Niederländer ge-
nannt werden. Wichtig erscheint vor allem Hans
Vredeman de Vries, der von 1586 bis 1590 in
Wolfenbüttel gelebt und — gemeinsam mit Francke
— am Ausbau der Heinrichstadt gearbeitet hatte.
Seine „Architectura“ (Antwerpen 1565, deutsch
1581) und die noch wichtigere „Architectura von
Austeilung, Symmetrie und Proportion der Säu-
len“ (1593/94) des Straßburgers Wendel Dietterlin
sind „Musterbücher“, in denen das meiste der For-
men und Kombinationen nordischer Renaissance-
Architektur des späten 16. und frühen 17. Jahrhun-
derts in phantastischer Fülle vorgebildet ist.32’
So läßt sich Franckes Architektur sicher mit vie-
lem, was seit dem frühen 16. Jahrhundert in
Deutschland entstanden war, vergleichen und —
bei genauerem Nachzeichnen der Entwicklungs-
linien — zu einem engmaschigen Beziehungsnetz
verknüpfen. Gleichzeitig jedoch wird durch einen
Blick auf das Juleum in Helmstedt deutlich, daß bei
allem Klären und Nachweisen von Voraussetzun-
gen und Vergleichbarkeiten das Eigenste seiner Ar-
chitektur kaum zu seinem Recht kommt.33’ Ent-
scheidend für das Entwerfen Franckes bleibt die
Disposition und komplexe Fügung „im Grunde“
kubischer, in planen Wandungen geschlossener
„Einheiten“. Die ins Wandplanum gespannten,
dünnhäutigen Stabwerksfenster im Obergeschoß
des Juleums oder die Korbbogenwände auf ihren
Hermenpfeilern in der Aula dieses Universitätsge-
bäudes machen dies wünschenswert deutlich. Daß
die Hermenstützen in Einheit mit den teilenden
Wandzügen der Korbbogenfolge zu sehen sind
und gemeinsam mit ihnen dem schlichten Aula-
gehäuse wie eingestellt wirken, daß die nicht ausge-
führten Hermenpfeiler des Hallen-Entwurfes für
die Marienkirche in unmittelbarer Nachfolge die-
ser Bildung und Anordnung stehen, ist evident. Es
unterstreicht, daß Francke weniger in Kategorien
der Ordnungen als des Fügens konsistenter Körper
und ihrer Wandungen dachte. Während in Bücke-
burg — oder auch der vergleichbar organisierten
Kapelle des Schlosses Kronborg in Helsingör34’ —
mächtige Säulen als Protagonisten der Ordnungen

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