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Die Hauptkirche Beatae Mariae Virginis in Wolfenbüttel — Forschungen der Denkmalpflege in Niedersachsen, Band 4: Hameln: Verlag C.W. Niemeyer, 1987

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GESCHICHTE DER RENOVIERUNG

„Wesentlich für das Raumverständnis dünkt ihn
(Otto H. Senn) die Anordnung des Gestühls, das
Anleitungen zum Sehen des Kirchenraumes, zum
Erleben der kirchlichen Gemeinschaft als Corpus
Christi und zu Verharren und Bewegung im litur-
gischen Ablauf des Gottesdienstes enthält. In der
Sitzordnung ... erkennt er ein konstitutives Ele-
ment der Raumbildung.“14*
Aus den Archivunterlagen ist lediglich bekannt,
daß in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ent-
weder für den ganzen Raum oder nur für den
Chorraum ein Gestühl neu angefertigt und weiß
angemalt worden ist.
Auch im Restaurierungsgutachten vom 15. Juni
1828, das Cammer-Baumeister Gotthard und
Cammer-Bauconducteur Müller erstellten, ist von
Stühlen und Bänken die Rede, die mit Ölfarbe zu
streichen sind.
Im Gutachten des Kreisbaumeisters Müller vom
9. Mai 1884 wird von der „Auswechselung des ur-
sprünglich nicht vorhanden gewesenen, sehr un-
schönen Gestühls im Mittelschiff gegen Bänke“15*
berichtet.
Im Zuge der 1889 fertiggestellten großen Restau-
rierung des vorigen Jahrhunderts sind die heute
vorhandenen Bänke des Mittelschiffes ebenso wie
das Gestühl unter den Seitenemporen geschaffen
worden. In solider handwerklicher Arbeit hat es
sich bis heute gut erhalten. Die Seitenwangen der
Mittelschiffbänke und die Ansichtsflächen der
Brüstungselemente vor den Bänken zeichnen sich
197 durch ein gutes Detail im Stile der Neurenaissance
aus. Offen bleibt die Frage, warum man sich trotz
der Restaurierungsbemühungen nach denkmal-
pflegerischen Gesichtspunkten für die Holzsich-
tigkeit des Gestühls entschied. Ausschlaggebend
mag die Tatsache gewesen sein, daß man unter dek-
kenden Farbanstrichen die reiche Intarsienarbeit
des Chorgestühls wiederentdeckte und in den ur-
sprünglichen Holztönen restaurierte.15’
194 Man entschied sich 1889 unter Verzicht auf den
Mittelgang für ein Mittelblockgestühl zwischen
den raumbeherrschenden Pfeilern. 1936 wurde
diese Konzeption verändert, indem die Bänke aus-
197 einandergesägt und die verzierten Wangen zum ge-
220 wünschten Mittelgang aufgestellt wurden. Ledig-
lich an den Pfeilern kürzte man die Bänke, während
die übrigen halbierten Restbänke unter den Gurt-
bögen hindurch in die Seitenschiffe ragten und zu
einer Beeinträchtigung der Raumarchitektur führ-
ten. Bestrebungen, bei der jetzigen Renovierung
die Mittelblockanordnung wiederherzustellen,
scheiterten am Widerstand des Kirchenvorstandes
wegen der auch andernorts zu beobachtenden Vor-
liebe für den nach evangelischem Verständnis un-
gewöhnlichen Prozessionsgedanken. Die Verände-
rung des Gestühls beschränkte sich daher auf ein

Kürzen der Bänke zu zwei gleichlangen Blöcken 48
zwischen den Hauptpfeilern mit Mittelgang. 49
Der von 1889 überlieferte Fußboden war an vie-
len Stellen gerissen und durch Heizungseinbauten
beschädigt. Die Fußbodengestaltung und die Wahl
eines geeigneten Materials hat nach den Archivun-
terlagen in der vergangenen Jahrhunderten immer
wieder Fragen aufgeworfen. Kreisbaumeister Mül-
ler schlug 1884 eine „angemessene Erneuerung des
zur Zeit aus alten Denksteinen und zerbrochenen
Platten bestehenden Fußbodens“ vor. Von der
Verwendung früherer Marmorplatten wurde abge-
sehen und statt dessen in den Kostenanschlag ein
„Fliesenbelag resp. ein Terrazzo-Estrich“ aufge-
nommen.15* Die Entscheidung zur Wahl dieses
Fußbodenmaterials ist aus heutiger Sicht schwer
nachvollziehbar und im Blick auf die übrige quali-
tätvolle Restaurierung schwer verständlich. Inso-
fern fiel die Entscheidung leicht, für die neuerliche
Renovierung ein angemessenes Fußbodenmaterial
auszusuchen. Nach Verlegung von Probeflächen
aus rötlichem Wesersandstein und beige-braunem
Harzer Dolomit wurde — insbesondere im Blick
auf die übrige Raumfarbigkeit — das letztgenannte
Material mit geschliffener Oberfläche im römi-
schen Bahnenverband ausgewählt. Bei dieser Aus-
wahl konnte noch nicht abgeschätzt werden, daß
die Beschaffung des einheimischen Plattenmate-
rials wegen der zeitweiligen Einstellung der Förde-
rung im einzigen und letzten Dolomit-Steinbruch
des Harzes große Schwierigkeiten im Bauablauf
mitsichbringen und zu Verzögerungen führen
würde. Aus akustischen und wärmetechnischen
Gründen wurden die Fußbodenbereiche unter den
Bänken mit braungebeizten Holzdielen belegt.
Doch bevor diese Arbeiten ausgeführt werden
konnten, mußte der Terrazzoboden abgebaut wer-
den. Darunter kamen die teils versehrten aber zu
einem großen Teil gut erhaltenen Grabplatten von
Wolfenbütteier Bürgern zutage. August Fink war
der Ansicht, diese Grabdenkmäler seien ver-
schwunden.9* Sie wurden von Kirchenvogt Dieter
Menzel sorgfältig aufgemessen und dokumen-
tiert.16* Dieses Aufmaß bedeutete eine wertvolle
Hilfe für die spätere Verlegung der Epitaphplatten
in wenig begangenen Zonen des neuen Fußbodens
und zur Aufhängung einer Auswahl an den Wän-
den des Kirchenschiffes. Die älteste der aufgefun-
denen Platten trägt die Jahreszahl 1629. Das in der
Literatur erwähnte Grab von Michael Praetorius,
Hofkapellmeister und Organist dieser Kirche, auf
den die Disposition der ersten Orgel zurückgeht,
wurde nicht gefunden. Er soll unter der Orgel,
deren Vollendung er nicht mehr erlebt hat, begra-
ben worden sein.9’ Auch das verschollene Epitaph
von Michael Praetorius wurde nicht wiederent-
deckt.
Nach dem Abräumen der Grabplatten wurden

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