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Görling, Adolph; Woltmann, Alfred [Bearb.]; Meyer, Bruno [Bearb.]
Deutschlands Kunstschätze: eine Sammlung der hervorragendsten Bilder der Berliner, Dresdner, Münchner, Wiener, Casseler und Braunschweiger Galerien : eine Reihe von Porträts der bedeutendsten Meister (Band 2) — Leipzig: Verlag von A.H. Payne, 1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.62335#0230
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Kkustler-Diographken.

Liouardo einige Versuche gemacht. Mit allem diesem sind aber 'seine Talente noch keineswegs
erschöpft. Er war ein mathematisches Genie, welches sich nicht allein mit den schwierigsten Pro-
blemen dieser Wissenschaft beschäftigte, sondern sie auch nach verschiedenen Richtungen praktisch zur
Anwendung brachte. So bildete er die Perspective zur völligen Wissenschaft aus, so war er ein
ausgezeichneter Wasserbaumeister, und als Festungsbaumeister so berühmt, daß verschiedene Fürsten
Italiens sich darin um seine Dienste bemühten, er erfand endlich verschiedene sehr complicirte
Maschinen und die künstlichsten Automate. Die Anatomie des Menschen wie des Pferdes, welches
Thier er leidenschaftlich liebte, hat er in allen Theilen weit mehr, als zu seinen künstlerischen
Zwecken erforderlich war, erschöpft, ja sein Wissensdrang hatte ihn vermocht, die Entstehung und
Bildung des Menschen bis in ihre geheimsten Stufen vom Embryo an zu verfolgen. Zu allem
diesem kam ciue so geistreiche uud graziöse Gabe der Unterhaltung, daß sein Umgang Jedermann
entzückte.
Mit solchen Gaben, sollte man glauben, hätte .er keine Schranke glücklichen Vollbringens
finden können; aber seine unendlichen Kräfte verzehrten sich zum großen Theil in den letzten Sta-
dien des Kampfes, in den er gestellt war, die Fülle und disparate Natur seiner Talente wurde
ihm zum Hemmschuh; und zu allem Unglück hat wohl selten über den Werken eines großen
Mannes ein feindlicherer Unstern gewaltet, als über Lionardo's. So geschah es, daß ganz eben so
wie bei Lessing trotz der Bedeutung seiner künstlerischen Production sein gewaltiger Einfluß auf
die Kunst seiner Zeit uud der folgender! Generation vorzugsweise auf der wisfeuschaftlichen Be-
gründung der Principien und Mittel beruhte. Dadurch aber bestimmte er selbst Raphael uud
Michelangelo, und war der einzige der großen italiänischen Hauptmeister, au den sich eine eigen-
thümliche uud in ihrer Art classische Gefolgschaft mit selbständigem Stil anschließen konnte.
Interessant ist die Wahrnehmung, daß es ihm gleich einem neueren, ihm vielfach verwandten
Meister, dem französischen Idealisten Ingres, der eben so die Schönheit und Reinheit der Form,
die plastische Rundung der Gestalten uud die Größe und Hoheit der Idee in der Kunst verfocht,
an rechter Erfindungsgabe gefehlt Hat. Viele Compositioueu mit wenigen Figuren zeugen von
feinem Liniengefühl, aber außer seinem darin wie in so manchen anderen Beziehungen vereinzelt
stehenden Hauptwerke hat er keine reiche Composition ausgeführt, und unter seinen zahllosen Hand-
zeichuuugeu, aus deuen man ihn bei der geringen Zahl der erhaltenen Gemälde hauptsächlich
kennen lernen kann, kommt keine einzige Composition von größerem Umfange vor.
In Verbindung mit dieser Thatsache ist die Vorschrift merkwürdig, die er seinen Schülern
ertheilt, um die Phautasie zu verschiedenartigen Erfindungen auzuregen. Sie sollen sich, räth er
ihnen, abgescheuerte fleckige Mauern oder bunte Steine fo lange anseheu, bis sie daran in ver-
schwommenen Andeutungen Landschaften und Schlachten, Figurenmotive, wunderbare Köpfe u. dgl. m.
erkennen. Das ist ganz dieselbe Manier, zu der wir die geistesbankerotteste Routine in unseren
Tagen haben ihre Zuflucht uehmen sehen, wo gefeierte Modekünstler ihre gepriesenften Schöpfungen
aus planlos hingesetzten und zusammeugestimmten Farbenflecken herausgewickelt habeu.
Unter den vielen Gegenständen, die bereits der Knabe mit Eifer und Erfolg ergriff, sagte ihm
keine Beschäftigung mehr zu als Zeichnen und Modeklireu. Der Vater erkannte in den Berfuchen
mehr als gewöhnliche Geschicklichkeit uud einfache Nachahmung, und fühlte sich veranlaßt, etwas
davon dem berühmten Bildhauer Andrea Verocchio, der ihm befreundet war, zur Ausicht vor-
 
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