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Grimm, Herman; Grimm, Herman [Editor]
Fragmente (Band 1,1) — Berlin, Stuttgart: Spemann, 1900

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https://doi.org/10.11588/diglit.47241#0264
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Goethe anlangt, so könnte hier der Vorwurf gerechtfertigt er-
scheinen: man lerne bei der Geschichtsbetrachtung in aufsteigender
Linie früher das Alter eines Mannes kennen als dessen Jugend.
Die Dinge liegen in der Thal so, daß der Junge Goethe
als Schluß einer Epoche nur im Gegensätze zum Alten Goethe
als Anfang einer uns näherliegenden Epoche, von der jedoch
anszugehen ist, historisch richtig abgeschätzt werden könne.
Es kommt also auf die Abgrenzung der Epochen an.
Wollte man statt dessen ohne Epochenbildung Schritt vor
Schritt von dem uns Näherliegenden zum Entfernteren zurück-
gehen, so müßte die Geschichte, dem Schüler so vorgetragen,
zu einer langen Aufzählung dessen gestaltet werden, was gestern
und aber- und abermals gestern geschah. Von König zu König,
von Krieg zu Krieg, vou That zu Thal würde rückwärts gegangen.
Vom Dasein eines großen Mannes würde man immer zuerst
sein Fortgehen erfahren.
Diese Umwandlung des Geschehenden aus einem, wie wir es
doch empfinden, ewig Neuerblühenden in ein unaufhörlich Ver-
wesendes würde, wenn es Gewalt gewönne, in der Seele des
Heranwachsenden Kindes das Gefühl erzeugen, als sei nur
Sterben etwas Reales. Als sei, was die Zukunft uns ge-
währen könne, nur ein Vergängliches. Als sei jede Mühe
und Arbeit etwas Verschwindendes. Als sei, was die Welt
an Glück und Kraft und Schönheit beherbergt, nur insofern
wirklich, als es dem Untergange geweiht ist. Von diesem
Gesichtspunkte aus darf der jugendliche deutsche Staatsbürger
der Zukunft die Entwicklung der menschlichen Schicksale und
derer seines Vaterlandes nicht betrachten lernen. Das Kind
würde angeleitet werden, die Welt wie aus uralter Erfah-
rung zu betrachten. Denn für den vom Leben erschöpften
 
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