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Konzentration des Wesentlichen eine lapidare Größe erreicht hat. Sehr bezeichnend für
seine große, edle Auffassung ist die »Iphigenie«, die Ihr ja alle kennt, denn durch die
Reproduktion ist sie eines der verbreitetsten Bilder.

Aus den poetischen Schilderungen des kleinbürgerlichen Lebens, die Ludwig Richter
so köstlich gibt, wurde später die. Genremalerei, die in ihrer Verflachung nur noch
Geschicklichkeitskunst war.

Wie vielgestaltig heute das figürliche Problem behandelt wird, das wißt Ihr ja aus
Ausstellungen und Abbildungen. Wie verschieden ein solcher Vollblutmensch wie
Lovis Corinth den Menschen darstellte, das lehrte die große Nachlaßausstellung, die
im Frühjahr des Jahres 1927 die weiten Räume der Nationalgalerie füllte. Auch Corinth
hat, wie die alten Meister, die »Kreuzigung« mehrfach gemalt, und es war sehr intern
essant, die verschiedenen Bilder davon zusammen zu sehen. Die erste Kreuzigung
wirkte gegen die letzte, unheimliche, fast akademisch. Die Steigerung des Ausdrucks bis
zur Grenze des Möglichen unter Verzicht auf alle landläufige Schönheit war sein hohes
Ziel. Über die Vielgestaltigkeit seiner Porträte muß man staunen. Immer wieder andere
Stellungen findet er für dasselbe Modell, aber was alle auszeichnet, ist die starke
Lebenswahrheit. Auch Corinth hat einen »Apostel Paulus« gemalt. Als Halbfigur auf
hellgelblichem Grunde in einem Gewände von hellem Königsblau predigt er mit weit
aufgerissenen Augen, Faszinierendes im Blick, ins Weite. Wie die Stirn herausmodelliert
ist und alles in dem mageren Asketengesicht von glühender Ekstase spricht, das zeigt,
daß sein Ahne Grünewald war, und nicht die italienischen Meister. »Simson« als Halb*
akt, der mit vorgelegter Schulter anrennt gegen sein Unheil, denn die Binde über seinen
Augen erzählt davon, ist mit einer. Bravour gemalt und von einer Stärke der Emp*
findung, wie Weniges in der heutigen Kunst.

Wie Liebermann seine Porträte auffaßt", seine Figuren gesetzt hat, das könnt Ihr
jeden Tag studieren, ebenso bei Slevogt und all den anderen Künstlern unserer
Zeit.

Viel lernen könnt Ihr von Hans Thoma, und besonders von Leibi. Mit psycho*
logischem Scharfblick hat er die Seele seiner Modelle erfaßt und mit unerbittlicher
Ehrlichkeit sie in den Zügen des Antlitzes, im Spiel der Hände wiedergegeben. Be*
sonders seine Bauerntypen sind von einer zwingenden Wahrheit, dabei sind sie fabel*
haft gemalt, tonig und von prachtvollem Kolorit.

Einen kurzen Blick noch auf den Expressionismus. Aus der Zeit des französischen
Impressionismus wuchs Cezanne hervor, und er wie van Gogh faßten alles, was sie
malten, in eigener Weise auf, die von allem" abwich, was bisher möglich war. Es war
ein Ringen mit persönlichsten technischen Mitteln, etwas ganz neuartig Gesehenes und
Erlebtes zum „höchstmöglichen Ausdruck zu steigern. Bei van Gogh nimmt das Formen
an, die damals nur von wenigen verstanden wurden. Unsere Expressionisten haben
diese als ihre Vorläufer anzuseheri. Bei Pechstein, Nolde, Schmitt*Rotluff und
anderen könnt Ihr sehen, wie man sein persönliches Empfinden in Formen neuer Ge*
setzmäßigkeit aussprechen kann.

Es ist selbstverständlich, daß ich in dem, was ich jeweilig an Beispielen anführte,
nur herausgriff, was mir am geeignetsten schien, um das, was ich Euch erklären wollte,
zu demonstrieren. Aus der ungeheuren Fülle des Materials durfte ich der notwendigen
Beschränkung halber nur winzige Bruchteilchen herausschälen.

Ich hoffe trotzdem, daß Ihr aus unserer kleinen Streife durch die kunstgeschichtlich
beglaubigten Schöpfungen eine klare Erkenntnis gewonnen habt von der Entwicklung

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