Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Nr. 89

Mittwoch, den 5. November 1878.

6. Jahrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 18 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerer, Schiffga ſſe 4
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Zu ſpät!
Novelle von Clariſſa Lohde.
(Fortſetzung.)

Um 9 Uhr kamen die Kantorsleuteherüber, um
mit Ketterer's vereint nach dem etwas entlegenen Bahn-
hof zu gehen. — Kantor Gruber ſah gealtert und nicht
ſo heiter wie ſonſt aus — er hatte wieder geheirathet
und dieſe Ehe, obwohl ſie ihn mancher Sorge entriſſen,
denn ſeine Frau hatte etwas Vermögen, trug doch nicht
dazu bei, ſein Leben angenehmer und friedlicher zu ma-
ſchen. Fran Adelheid war etwas herrſchſüchtig und
launenhaft, und wurde durch jeden häuslichen Verdruß,
der bei den kleinen Kindern nicht ausbleiben konnte,
in gereizte Stimmung verſetzt, für welche der Mann
ſtets als rechtzeitiger Ableiter benutzt wurde. Heute
war Frau Adelheid ſehr reich geſchmückt, ſie ſollte ih-
rem Stiefſohn Paul, von deſſen Talent Jedermann im
Orte mit Stolz und Freude ſprach, zum erſten Mal
gegenüber treten, und es lag ihr daran, auf ihn einen
guten Eindruck zu machen. Auch die Kinder waren
ſtattlich herausgeputzt — aber es hatte dieſer außer-
ordentlichen Gelegenheit wegen heute Morgen ſchon
mancherlei Verdruß gegeben. — Ketterer's waren zur
Feier des Tages eingeladen worden, die Gruber'ſche
Köchin aber, ein einfältiges Mädchen vom Lande, hatte
Frau Adelheid bei der Anordnung des Mittageſſens
viel Aerger bereitet. Für Mann und Kinder war da-
her der Morgen ein böſer geweſen, und trotz der Freude
auf Paul's Ankunft, ſah man keine rechte Heiterkeit
auf den Geſichtern der Seinen. Endlich ging der Zug
vom Schulhauſe ab, die kleinen Kinder voran, Robert
hatte Käthchen den Arm geboten, die Alten machten
den Schluß. Der Schulmeiſter ſah am allerglücklich-
ſten aus — er ſchaute nach allen Fenſtern und grüßte
alle Leute ſo bedeutungsvoll, als wollte er Jedem ſa-
gen, welch' wichtiger Tag heute wäre. ö
Eine halbe Stunde vor Ankunft des Eiſenbahnzu-
ges war man ſchon auf dem Bahnhof angelangt. Die
Kinder machte das Warten ungeduldig, ſie wurden un-
artig und Frau Adelheid ſchalt. Der alte Gruber
fuhr ſtets bei jedem heftigen Wort, das ſeine Frau
ſprach, ängſtlich zuſammen, Robert ſah düſter dem zu.
— Käthchen ſaß nebenprer Mutter, die zärtlich ihre
Hand in der ihren h die war ſehr aufgeregt, ihr
Herz klopfte heftig,

ſehr häufig mit dem Ta-

ſchentuch nach den Augen, als ſollten Thränen dort
hervorbrechen. Es war das Uebermaß der Freude.
Da ertönte das erſte Pfeifen, man eilte auf den
Perron, Käthchen's Füße zitterten, ſie vermochte ſich
kaum aufrecht zu erhalten, ihr wurde es ſchwarz vor
den Augen — noch nier hatte ſie es ſo empfunden,
wie in dieſem Augenblicke, wie über Alles theuer Paul
ihr war.
Der Zug hielt. Aus einem Coupee zweiter Klaſſe
ſprang der junge Muſiker, elegant gekleidet, wie ein
Dandy. Sein Haar duftete, das Chemiſette war von
blendender Weiße, die ſtrohfarbenen Handſchuhe um-—
ſchloſſen eng die hübſchgeformte Hand. Er hatte Käth-
chen zuerſt geſehen, die erbleichend in ſeine Arme fiel.
Paul ſah ſie faſt befremdet an, er vermochte dieſe Auf-
regung nicht zu verſtehen. Er hatte ſich wohl auch
gefreut, ſehr gefreut auf das Wiederſehen — aber er
liebte nicht die Scenen — und alle Menſchen auf dem
Perron ſahen neugierig auf ihn und ſeine Braut. Es
dauerte indeſſen nur einen Moment und Käthchen war
wieder ſie ſelbſt — ſie hatte Paul's Befremden wohl
bemerkt und trat raſch zurück, ſeinen Eltern und Ge-
ſchwiſtern Platz machend. Paul mußte ſie alle durch-
küſſen. Daran gewöhnt, ſolche Gefühle höchſtens da-
heim im ſtillen Kämmerlein zu zeigen, ſühlte er ſich
faſt unangenehm durch das öffentliche Zeigen derſelben
berührt. Dennoch bezwang er ſich, begrüßte die Stief-
mutter mit einigen herzlichen Worten, drückte Robert,
der tief bewegt war, ſtumm aber ſreundlich die Hand
und reichte dann Käthchen den Arm.
„Laßt uns raſch' nach Hauſe eilen“, flüſterte er ihr
zu — „die vielen Leute hier geniren mich.“
Kaäthchen blickte ſtumm zu Boden — ſie konnte es
nicht begreifen, wie man ſich der edelſten, beſten Ge-
fühle ſeines Herzens ſchämen konnte. Aber es gehörte
das gewiß zum feinen Ton und Paul verſtand das
ja jedenfalls beſſer, als fie. Der Tag verging wie ein
Rauſch vorüber, Paul erzählte viel, er ſpielte, er ſang.
Käthchen lauſchte dem Allen in ſtiller Freude, in die
ſich zwar auch ein klein wenig Wehmuth miſchte. Sie
fand Paul verändert, zwar faſt liebenswürdiger und
geſprächiger noch als früher, aber es ſchien ihr Alles
nicht mehr ſo wahr und warm wie ſonſt aus dem Her-
zen zu kommen. ö
Zu Käthchen war er noch nicht hinüber gekommen,
erſt des Abends, als ſeine jungen Geſchwiſter ſchlafen
gegangen waren, ſolgte er ihr zu der Niſche, die ſie ſo
freundlich für ihn geſchmückt hatte. — Wieder ſchien
 
Annotationen