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Heillelberger Vol

Sblatt.

TXr. 90.

Samſtag, den 8. November 1873.

6. Jahrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 15 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerer, Schtiſfga ſſe 4
und bei den Trägern. Auswärts bet den Landboten und Poſtanſtalten.

3u ſpät!
Novelle von Clariſſa Lohde.
(Fortſetzung.)

Käthchen antwortete nicht, ſie reichte Paul die Hand
und lehnte einen Moment ſtill den Kopf an ſeine Schul-
ter — dann ſah ſie, lächelnd wie ſonſt zu ihm auf.
Fortan bemühte ſie ſich, ſo lange er noch da war, heiter
und ſorglos zu erſcheinen und kein Wort der Klage
kam mehr. über ihre Lippen. Nur als er auf dem
Bahnhof von ihr Abſchied nahm und ſein Mund zum
letzten Mal ſich anf den ihren in innigem Kuße preßte,
war's ihr, als ob es ein Abſchied für ewig ſein ſollte.
Thränen traten in ihre Augen — aber ſie blickte auf
Paul, der ſie ruhig und wie es ihr ſchien, vorwurfs-
voll anſchaute — und mit aller Gewalt drängte ſie die
verrätheriſchen Tropfen zurück. Sie preßte die Hand
auf's Herz, und als der Zug ſich in Bewegung ſetzte,
nickte ſie Paul noch einmal mit mattem Hächeln zu.
Dann aber war ihre Kraft auch gebrochen, ſie ſank der
Mutter in die Arme und heftiges Schluchzen entrang
ſich ihrer Bruſt. Frau Agnes ſuchte ſie mit milder
Güte zu tröſten und aufzurichten. Sie war mit Käth-
chen allein auf dem Bahnhof, ihr Mann und der Kan-
tor hatten Unterricht zu geben. Beruhigend nahm ſie
Ha be. der Tochter und ging langſam mit ihr nach
Hauſe. ö
„Ich begreife deine Thränen wohl“, ſagte die Mut-
ter, „aber die Heftigkeit Deines Schmerzes überraſcht
mich dennoch. Du haſt doch die erſte Trennung von
Paul ſo ſtandhaft und mit ſo heiterem Muthe ertragen,
warum jetzt dieſe Niedergeſchlagenheit?“
VIch weiß nicht, warum? liebe Mutter! Aber mir
liegt's wie eine Centnerlaſt auf dem Herzen — es iſt
mir, als ſei ich von Paul auf ewig geſchieden!“
Und wieder entrang ſich ein heftiges Schluchzen ih-
rer Bruſt. Die Mutter ſah ſie ernſt an. *
„Käthchen!“ fragte ſie verweiſend, „ich erkenne Dich
ja gar nicht wieder! Iſt das mein ſtarkes Mädchen?
Wo iſt Dein Vertrauen hin, das Dich über alle Schwie-
rigkeiten ſo leicht hinweg ſehen ließ, als ichn Dich vor;
dem gar zu frühen Verlöbniß warnte? Damals gillſt
Du lachend über allen Bedenken fort — und jeßk?
Kaum iſt ein Jahr verfloſſen und wie viel Jahre wer-
den noch hingehen, ehe Iu l's Weib werden kannſt?

— Und um eines Scheidens willen auf kurze Zeit willſt
Du ſchon vor Schmerz vergehen? ?
„Auf kurze Zeit, Mutter? Ein Jahr, ein ganzes
Jahr wird hingehen, ehe ich ihn wieder ſehen kann!“ —
„Was iſt ein Jahr im Laufe der Zeit, mein Kind?
Und wie kurz däuchte es Dir, als Du im vergangenen
Jahr mit den ſeeligſten Hoffnungen, den wärmſten
Wünſchen für ſein Glück von Deinem Geliebten ſchie-
deſt? Und was damals nur eine freundliche Hoffnung
war, iſt jetzt zu einer ſchönen Gewißheit geworden;
Paul's Talent hat ſich bewährt, er geht allem Anſchein
nach einer faſt geſicherten glänzenden Zukunft entgegen,
warum alſo jetzt gerade dieſe Thränen?“
Käthchen ſah erröthend zu Boden.
„Du zweifelſt doch nicht etwa an Paul's Treue?“
fragte Frau Agnes ernſt weiter.
„O nein, o nein, an ihm zweifle ich nicht“, rief
Käthchen lebhaft, „o ich weiß ja, er liebt mich, ich weiß,
er iſt gut und edel — ich zweifle nur an dem Geſchick
— ich war zu glücklich, zu glücklich, Mutter!“ Sie
ſchmiegte ſich an die Mutter, ihre Thränen floſſen von
Neuem. —
„Thörin, kleine liebe Thörin!“ rief Frau Agnes
und küßte em holden Kinde die Thränen von den
Wangen.
„Vertraue auf Gott! — Du warſt glücklich, über-—
glücklich — nun wohl, danke dem Schöpfer dafür! —
So manchem Menſchen ward auf Erden nie eine Stunde
ſo ungetrübten, hohen Glückes beſchieden, wie Du es
jetzt wochenlang genoſſen haſt.“ — In den Augen von
Frau Agnes ſchimmerte es feucht, ſie ſprach aus Er-
fahrung. — Sie hatte das ſüße Glück der höchſten Em-

pfindung, das Glück der Liebe ja nie gekannt, ihr Le-

ben war bis zu dieſer Stunde ein Leben der Hingabe,
der Aufopferung ihrer ſelbſt geweſen. — Den Mangel
dieſes Glückes hatte ſie indeß bis jetzt noch kaum em⸗ͤ
pfunden; erſt als ſie den Liebesfrühling ihres eigenen
Kindes ſchaute, durchzuckte ſie es zuweilen wehmüthig,
als habe ihrem Leben doch etwas gefehlt, da ihr dieſe
köſtliche Blume nie geblüht. Aber dennoch bereute ſie
es nicht, ihre Jugend ſtatt der Freude und dem Genuſſe
ernſter, treuer Pflichterfüllung gewidmet zu haben.
Eines hatte ihr doch niemals gefehlt, Eines beſaß ſie
was höher ſteht als aller Genuß und alles Glück der
Erde, der Frieden der Seele, den ein reines Gewiſſen,,
den das Bewußtſein giebt, ſein eigenes Glück dem Glück

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