Nr. 91.
Mittwoch den 12. November 1873.
6. Jahrg.
Erſcheint Mittwoch und Samſcag. Preis monatlich 18 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckeret, Schinac ſſe
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.
Zu fpät!
Novelle von Clariſſa Loh de.
(Fortſetzung.)
„Auch dann nicht!“ —
Jenny ſtand auf und legte ihre Hand auf Bo-
do's Arm.
„Um eines Menſchen willen, der uns getäuſcht hat,
darf man die ganze Welt nicht verdammen.“
„Und wenn man hinterher noch tauſendfach Erfah⸗—
rung gemacht hat, daß Andere auch nicht beſſer ſind,
als diele Eine?“
„So darf man nie müde werden, das Gute zu
ſuchen.“ ö
Bodo dlickte zu Jenny auf, er ſah ihr tief in's
Auge. — „Jenny!“ rief er bewegt, „o Gott, hätte ich
Sie eher kennen gelernt, hätte ich mich eher dem Ein-
fluß Ihres edlen Geiſtes hingeben dürfen, ich hätte den
Glauben eher wiedergefunden, und es wäre Vieles,
Vieles anders geworden.“
Er ergriff ihre Hand und hielt ſie feſt in der ſei-
nen, ſie entzog ſie ihm langſam. ö
Dann trat ſie an's Fenſter und ſchaute ſtumm hin-
aus in den ſonnigen Tag, ihre Hand, mit der ſie ſich
auf das Fenſterbrett lehnte, zitterte unmerklich.
Bodo ſtützte ſein Haupt in die Hand und verſank
in ernſtes Sinnen.
Nach langer Pauſe wandte Jenny ſich um und trat
mit der ihr eigenen Würde wieder zu Bodo hin. Still
ſetzte ſie ſich ihm gegenüber, nichts verrieth an ihr
eine außergewöhnliche Bewegung.
„Haben Sie Ihren Freund, Paul Gruber, ſchon
von Ihrem Entſchluß unterrichtet?“ fragte ſie daun in
gewohnter freundlicher Weiſe.
Bodo blickte auf, — er fuhr aus tiefen Gedanken
empor.
„Paul? — ja — er weiß es. Es überraſchte ihn
anfangs um ſo mehr, da unſer Zuſammenſein ſeit zer
Rückkehr von unſern Reiſen erſt ein kurzg gewendt
Aber bald war er gefaßt und wünſchte mir Nus
Herzen Glück. Sie wiſſen, er iſt ſtets der Ruhigs
ich möchte faſt ſagen, der Weiſe, der mich oft beſchämt,
wenn es heißt, etwas ungſpderliches mit Faſſung und
Geduld hinzunehmen.d ö ö
Jenny ſah nachdenklich vor ſich hin.
ſagte Jenny raſch.
„Um Paul's willen thut es mir leid, daß Sie fort-
gehen, er hatte an Ihnen einen treuen Freund, eine
Stütze, die ihm Niemand hier erſetzen kann.“
„Ich glaube, Paul iſt ſich ſelbſt Stütze genug, er
bedarf keiner anderen. Ich habe faſt noch nie einen
jungen Mann geſehen, der ſo bedacht und beſonnen in
ſeinem Handeln iſt, als Paul.“
„In gewiſſer Beziehung haben Sie vollkommen
Recht“, ſagte Jenny nachdenklich, „doch iſt mir eine
Seite ſeines Charakters aufgefallen, die mir die gefähr-
liche Achillesferſe für ihn zu ſein ſcheint, er iſt — ich
will nicht gerade ſagen — eitel, doch nach Anerkennung
geizend. Haben Sie nicht auch bemerkt, daß er Men-
ſchen, die ihm ſchmeicheln, wenn er es auch nicht wahr
haben will, doch ſtets Denen vorzieht, die es vielleicht
beſſer mit ihm meinen, aber wahr und offen gegen ihn
ſind, und ſelbſt einen Tadel, wenn ſie ihn für nöthig
finden, nicht unterdrücken?“
„Das ſcheint ihnen wohl nur ſo, Jenny“, entgeg-
nete Bodo — „auch mir iſt es aufgefallen; aber Paul
giebt mir die Erklärung dafür. — Sein Prinzip iſt,
den Menſchen gerade ſo zu begegnen, wie ſie ihm be-
gegnen. Sie werden mir zugeben, Jenny, daß das
ſehr klug und nichts dagegen zu ſagen iſt. — Innerlich
hat, er, glauben Sie mir, eine ſehr richtige Werthſchätz-
ung für die Meiſten — ſein Urtheil überraſcht mich oft.“
„Dieſe Klugheit geht mir faſt zu weit, Bodo“ —
„Sie wiſſen ja, ich meine es ſehr
gut mit Paul — ich ſchätze ſeine Talente und ſeine
Moralität ſehr hoch, — aber gerade dieſes ſein Ver-
ſteckenſpielen mit ſeinen wahren Gefühlen ſcheint mir
gefährlich. — Außerdem kennt der Menſch ſich niemals
ſelbſt. — Wenn er Ihnen auch dieſen Grund ſeines
oft gar zu entgegenkommenden Weſens gegen Menſchen,
die er innerlich unmöglich hochſchätzen kann, angiebt, ſo
täuſcht er ſich doch vielleicht darin ſelbſt. Er will es
nicht wahr haben, weil ſein beſſeres Ich dagegen ſich
ſträubt. Er gehört nach meiner Anſicht zu denen, die
äußerlich gegen alles Lob gleichgültig erſcheinen, und
die innerlich vor Ehrgeiz brennen.“ ö
„Sie ſehen ſchwarz, Jennyh vp!—
„Ich ſehe mit den Augen der Zuneigung und Er⸗-
fahrung —“
„So breiten Sie, ſo lange ich fern bin, Ihre Flügel
über uuſern Schützling aus — edles Mädchen?“ rief
Bodo mit Wärme, „ſuchen Sie ihn von ſeinem gefähr-
lichen Fehler zu befreien, der allerdings, wenn ich über
Manches nachdenke, was ich mit ihm erlebt, begründet
Mittwoch den 12. November 1873.
6. Jahrg.
Erſcheint Mittwoch und Samſcag. Preis monatlich 18 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckeret, Schinac ſſe
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.
Zu fpät!
Novelle von Clariſſa Loh de.
(Fortſetzung.)
„Auch dann nicht!“ —
Jenny ſtand auf und legte ihre Hand auf Bo-
do's Arm.
„Um eines Menſchen willen, der uns getäuſcht hat,
darf man die ganze Welt nicht verdammen.“
„Und wenn man hinterher noch tauſendfach Erfah⸗—
rung gemacht hat, daß Andere auch nicht beſſer ſind,
als diele Eine?“
„So darf man nie müde werden, das Gute zu
ſuchen.“ ö
Bodo dlickte zu Jenny auf, er ſah ihr tief in's
Auge. — „Jenny!“ rief er bewegt, „o Gott, hätte ich
Sie eher kennen gelernt, hätte ich mich eher dem Ein-
fluß Ihres edlen Geiſtes hingeben dürfen, ich hätte den
Glauben eher wiedergefunden, und es wäre Vieles,
Vieles anders geworden.“
Er ergriff ihre Hand und hielt ſie feſt in der ſei-
nen, ſie entzog ſie ihm langſam. ö
Dann trat ſie an's Fenſter und ſchaute ſtumm hin-
aus in den ſonnigen Tag, ihre Hand, mit der ſie ſich
auf das Fenſterbrett lehnte, zitterte unmerklich.
Bodo ſtützte ſein Haupt in die Hand und verſank
in ernſtes Sinnen.
Nach langer Pauſe wandte Jenny ſich um und trat
mit der ihr eigenen Würde wieder zu Bodo hin. Still
ſetzte ſie ſich ihm gegenüber, nichts verrieth an ihr
eine außergewöhnliche Bewegung.
„Haben Sie Ihren Freund, Paul Gruber, ſchon
von Ihrem Entſchluß unterrichtet?“ fragte ſie daun in
gewohnter freundlicher Weiſe.
Bodo blickte auf, — er fuhr aus tiefen Gedanken
empor.
„Paul? — ja — er weiß es. Es überraſchte ihn
anfangs um ſo mehr, da unſer Zuſammenſein ſeit zer
Rückkehr von unſern Reiſen erſt ein kurzg gewendt
Aber bald war er gefaßt und wünſchte mir Nus
Herzen Glück. Sie wiſſen, er iſt ſtets der Ruhigs
ich möchte faſt ſagen, der Weiſe, der mich oft beſchämt,
wenn es heißt, etwas ungſpderliches mit Faſſung und
Geduld hinzunehmen.d ö ö
Jenny ſah nachdenklich vor ſich hin.
ſagte Jenny raſch.
„Um Paul's willen thut es mir leid, daß Sie fort-
gehen, er hatte an Ihnen einen treuen Freund, eine
Stütze, die ihm Niemand hier erſetzen kann.“
„Ich glaube, Paul iſt ſich ſelbſt Stütze genug, er
bedarf keiner anderen. Ich habe faſt noch nie einen
jungen Mann geſehen, der ſo bedacht und beſonnen in
ſeinem Handeln iſt, als Paul.“
„In gewiſſer Beziehung haben Sie vollkommen
Recht“, ſagte Jenny nachdenklich, „doch iſt mir eine
Seite ſeines Charakters aufgefallen, die mir die gefähr-
liche Achillesferſe für ihn zu ſein ſcheint, er iſt — ich
will nicht gerade ſagen — eitel, doch nach Anerkennung
geizend. Haben Sie nicht auch bemerkt, daß er Men-
ſchen, die ihm ſchmeicheln, wenn er es auch nicht wahr
haben will, doch ſtets Denen vorzieht, die es vielleicht
beſſer mit ihm meinen, aber wahr und offen gegen ihn
ſind, und ſelbſt einen Tadel, wenn ſie ihn für nöthig
finden, nicht unterdrücken?“
„Das ſcheint ihnen wohl nur ſo, Jenny“, entgeg-
nete Bodo — „auch mir iſt es aufgefallen; aber Paul
giebt mir die Erklärung dafür. — Sein Prinzip iſt,
den Menſchen gerade ſo zu begegnen, wie ſie ihm be-
gegnen. Sie werden mir zugeben, Jenny, daß das
ſehr klug und nichts dagegen zu ſagen iſt. — Innerlich
hat, er, glauben Sie mir, eine ſehr richtige Werthſchätz-
ung für die Meiſten — ſein Urtheil überraſcht mich oft.“
„Dieſe Klugheit geht mir faſt zu weit, Bodo“ —
„Sie wiſſen ja, ich meine es ſehr
gut mit Paul — ich ſchätze ſeine Talente und ſeine
Moralität ſehr hoch, — aber gerade dieſes ſein Ver-
ſteckenſpielen mit ſeinen wahren Gefühlen ſcheint mir
gefährlich. — Außerdem kennt der Menſch ſich niemals
ſelbſt. — Wenn er Ihnen auch dieſen Grund ſeines
oft gar zu entgegenkommenden Weſens gegen Menſchen,
die er innerlich unmöglich hochſchätzen kann, angiebt, ſo
täuſcht er ſich doch vielleicht darin ſelbſt. Er will es
nicht wahr haben, weil ſein beſſeres Ich dagegen ſich
ſträubt. Er gehört nach meiner Anſicht zu denen, die
äußerlich gegen alles Lob gleichgültig erſcheinen, und
die innerlich vor Ehrgeiz brennen.“ ö
„Sie ſehen ſchwarz, Jennyh vp!—
„Ich ſehe mit den Augen der Zuneigung und Er⸗-
fahrung —“
„So breiten Sie, ſo lange ich fern bin, Ihre Flügel
über uuſern Schützling aus — edles Mädchen?“ rief
Bodo mit Wärme, „ſuchen Sie ihn von ſeinem gefähr-
lichen Fehler zu befreien, der allerdings, wenn ich über
Manches nachdenke, was ich mit ihm erlebt, begründet