Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Nr. 101.

Mittwoch, den 17. Dezember 1873.

6. Jchrg.

hen Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 18 kr.

Einzelne Nummer à 2 kr.

Man abonnirt in der Vruckerer, braſſe 4

und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Zu ſpät!
Novelle von Clariſſa Lohde.

(Fortſetzung.)

Während deſſen ſaß das Brautpaar ſtill neben ein⸗—
ander in der tiefen Fenſterniſche, in der ſie ſchon ſo manche
ſelige Stunde verlebt hatten. Käthchen's Hand ruhte
in der Paul's, ſie ſah ihm tief und innig in's Auge.
„Du ſiehſt leidend aus, Paul“, ſagte ſie — „biſt
Du krank geweſen?
Paul ſchüttelte den Kopf: „O, mir iſt nichts“, ſagte
er raſch, „die haſtige Reiſe, die Aufregung über die
plötzliche Todesnachricht, das iſt Alles. —“
Käthchen ſah ihn traurig an: „Das iſt nicht Alles,
Paul“, ſagte ſie ernſt — „ich leſe noch ein anderes
Leiden auf Deinem Geſicht, das Du mir zu verbergen
ſuchſt — ein inneres Leiden —“
Paul ſuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht —
5Haſt Du kein Vertrauen mehr zu mir?“ fuhr ſie
ſchmeichelnd fort — „habe ich, Deine Braut, nicht ein
Recht, Alles zu wiſſen, was Dich betrübt? Sag', was
bedrückt Dich, ich will es Dir tragen helfen.“
Paul nahm ihre Hand und zog ſie an die Lippen —
„Mein gutes, liebes Käthchen!“
„Nun?“ forſchte ſie weiter.
Paul ſeufzte. „Was mich drückt“, ſagte er nach
einer Pauſe, „iſt daſſelbe, was alle Künſtler drückt, die
nach dem Höchſten in der Kunſt ſtreben. — Man ſieht,
je mehr man in die Kunſt eindringt, wie weit man
von dem hohen Ziele entfernt iſt, dem man zuſtrebt;
man fängt an zu zweifeln, ob man daſſelbe überhaupt
erreichen kann — und das, Käthchen, iſt es, was das
Gemüth des Künſtlers ernſter ſtimmt, als das anderer
Menſchen.“
„Du ſprachſt früher anders.“
„Damals blickte ich eben noch mit anderen Augen
in die Welt. Damals ahnte ich noch nicht wie ſchwer
die Kunſt iſt. Ja, wer ſich begnügen kann, an den
Stufen des hehren Tempels ſtehen zu bleiben, dem
mag ſich das Leben noch heiterer und glänzender ge-
ſtalten — wer aber das unüberwindliche Verlangen
nach dem Höchſten, nach der Vollendung in ſich trägt,
den wird das Leben nicht auf weichen Pfühlen wiegen,
dem wird es ein Leben des Ringens und Kämpfens,
ein Leben voll Ernſt und Entſagung werden. Und wer
bürgt uns dafür, daß wir ſelbſt nach dem heißeſten

Vaters überflutheten,

Ringen das erreichen, wonach wir mit aller Kraft un“
ſeres Seins ſtreben? Wer ſagt uns, ob nus nicht das
Schickſal ſchon auf halbem Wege ſtille ſtehen heißt, ob
wir nicht enttäuſcht an uns ſelbſt verzweifelnd in's
Nichts zurückgeſchleudert werden? —“
In Paul's Augen leuchtete es düſter auf; Käthchen
ſah ihm lange ſchmerzlich bewegt in 41 erregte
Antlitz.
„Wie anders Du geworden biſt, Paul“, ſeufte ſie.
„Ich kenne Dich kaum wieder — wo iſt Dein friſcher
Lebensmuth? — Wo ſind alle fröhlichen Hoffnungen
geblieben, mit denen Du mich beim Antritt Deiner
Künſtlerlaufbahn verließeſt?“
Paul antwortete nicht, ein tiefer Seufzer entrang
ſich ſeiner Bruſt, er fuhr mit der weißen Hand über
die hohe, bleiche Stirn —
Käthchen ſchmiegte ſich näher an ihn. —
„Ich verſtehe Deine Zweifel nicht!“ ſagte ſie trau-

rig, „ich verſtehe die Waͤndlung nicht, die mit Dir vor-

gegangen — aber ich weiß es lange, Du biſt ein An-
derer geworden, Deine Briefe haben es mich gelehrt,
Du biſt nicht mehr derſelbe Paul, den ich als Kind
geliebt, nicht mehr der Spielgefährte meiner Jugend —“
„Ich bin ein Mann geworden. —“
Käthchen biickte forſchend in das halb von ihr abge-
wandte Antlitz Paul's.
„Hat aber der Mann“, fragte ſie ernſt, „die Ge⸗—
ſühle des Knaben ſich bewahrt? — Antworte mir auſ-
richtig, Paul — ſind es die eben ausgeſprochenen
Zweifel allein, die Dich auch mir gegenüber ſo verän-
dert haben, oder iſt es noch etwas Anderes? — Ich
flehe Dich an, ſei wahr mit mir!“ —
Ihre Augen hingen an Paul's Lippen, er ſah ihr
lange ſchweigend in das bleiche Antlitz, auf dem ſich
eine ſo peinvolle Angſt, eine ſo lange verſchwiegene
Klage malte, daß er ſein Herz qualvoll erbeben fühlte.
Nein, nein, er vermochte das ſanſte holde Kind, deſſen
Augen noch von dem Schmerz über den Verluſt des
nicht kränken, es kam ihm wie

ein Verbrechen vor, dieſer gütigen, liebevollen Seele

den Glauben zu rauben, an dem ihr ganzes Glück hing.

— Was auch in ihm vorging, welch' dunkle Kämpfe
auch in ſeiner Bruſt ausgekämpft werden mußten —
ſie ſollte nicht darunter leiden, ihr ſollte der ſchöne

Frieden der Seele nicht geſtört werden.

„Es iſt nur dieſes allein!“ antwortete er leiſe und

gepreßt, als ſcheue er ſich vor dem Ton ſeiner eigenen

Stimme.
 
Annotationen