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lelberger Vollsblatt

Nr. 103.

Mittwoch, den 24. Dezember 1873.

6. Johrü.

Eeſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckeret, Schiſfar ſſe A
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Zu ſpät!
ö Novelle von Clariſſa Lohde.
(Fortſetzung.)
Doch nur einen Moment dauerte dieſer Wonne-

rauſch, die Gräfin riß ſich plötzlich von Paul los und

trat in ſcheinbarer Verwirrung an den Tiſch — Paul
wollte ihr folgen, ſie winkte ihm zu bleiben — er blieb
ihrem Befehle horchend auf ſeinem Platze ſtehen —

ſeine Augen nur hielten das berauſchende Bild feſt,
das ihnen die in holder Befangenheit vergeblich nach

Faſſans und Haltung ringende Geſtalt der Gräfin
arbot.
gedankenlos in einem vor ihr liegenden Album, die
goldblonden Locken verdeckten halb das entzückende Profil
des edlen Antlitzes, ihr Buſen hob ſich heftig unter der
engen Hülle des ſeidenen Kleides — ſelbſt die feine
mit Ringen geſchmückte Hand bebte ein klein wenig,
als ſie ein Blatt des Kunſtalbums nach dem andern
umſchlug — Paul vermochte nicht, ſich länger zu hal-
ten, alle ſeine Sinne waren in Aufregung, er wollte
ihrem Verbote zum Trotz ſich ihr nahen, war ſie denn
für ihn jetzt etwas Anderes, konnte ſie für ihn etwas

Anderes ſein, als das in ſehnſüchtiger Liebe bebende

Weib? —
Aber ehe er ſeinen Gedanken die That folgen laſ-
ſen konnte, öffnete ſich bereits die Portiere und Fräu-

lein von Altheim trat mit der verlangten Liſte in der

Hand in das Zimmer. Die Gräfin hatte ſogleich ihre
Haltung wiedergewonnen — Paul ſuchte ſich zu faſſen,
er trat an den Tiſch und die Gräfin legte ihm mit
der ihr gewöhnlichen, vornehm liebenswürdigen Herab-
laſſung die ihr von Fräulein v. Altheim überreichte
Liſte vor. Paul's Augen ſenkten ſich auf das Papier;
aber die Buchſtaben tanzten ihm vor den Augen — er
wandte das Blatt um, ſeine Hand berührte zitternd
die der Gräfin, ein leiſer Druck, ein raſcher, glühender

Blick Auge in Auge — dann war die Gräfin ganz

wieder ſie ſelbſt, der Ausdruck ihres Geſichtes ruhig,
ihre Sprache gemeſſen wie ſonſt.

Fräulein von Altheim ſtand in ehrerbietiger Ferne;

ſie hatte den faſt theilnahmloſen Ausdruck im Geſicht,
den Perſonen in untergeordneter Stellung ſich mit den
Jahren anzueignen pflegen; aber in ihren Augen

berge, was das Auge der Welt zu ſcheuen habe.

Sie hatte das Haupt geneigt und blätterte

konnte ein genauerer Beobachter doch ein foſt ängſtli-
ches Aufmerken erkennen, als fühle ſie wohl, daß hier
unter dem äußeren Schein der Ruhe ſich etwas ver-
Paul
verabſchiedete ſich bald — er fühlte ſich in dieſem Mo-—
mente nicht fähig, länger unter dem Zwang dieſer zwei
auf ihn gerichteten Augen des Fräulein von Altheim
bei der Gräfin zu verweilen.
Eine tiefe Verbeugung ſeinerſeits, ein anmuthvol-
les Kopfneigen der Gräfin — und die Thüre ſchloß
ſich hinter ihm. — Er war jetzt allein, allein mit dem
wilden Sturme der Gefühle in ſeiner Bruſt, allein mit
der berauſchenden Erinnerung an die eben erlebte,

wonnig ſelige Stunde.

Selbſt die kalte Nachtluft draußen vermochte nicht
die Gluth ſeines Innern zu dämpfen, wie ein Trau-
mender durcheilte er die Straßen, wie ein Träumender
ſtieg er die Stufen der ſchmalen Treppe hinauf, die
zu ſeinem Stübchen führte. Sein Geiſt ſchien ſich von
dem Körper abgelöſt zu haben, ſeine äußere Umgebung
verſchwand vor ihm — ſeine Seele lebte in einer an-
dern Welt der Wonne und des Genuſſes. Kein kla-
rer Gedanke vermochte dieſes Traumleben zu durch-
dringen — ſelbſt Käthchen's Bild, obwohl es in ſei-
nem tiefen Innern ſchmerzensbleich und düſter war-
nend auftauchte, verſchwand in Nebelhauch vor dem
Gefühl der Beſeligung, das alle ſeine Adern durchzit-
terte. In heißer Ermattung warf er ſich auf ſein La-
ger und über ihm ſchwebte abermals das Bild der

ſschönen Gräfin, ihr von rothem Schimmer überhauch-
tes Antlitz neigte ſich lächelnd zu ihm, ihre goldenen
Locken berührten ſeine Stirn, er empfand mit träume-

riſchem Behagen den ſüßen Duft, der ihrem Haar ent-
ſtrömte, immer näher, immer näher neigte ſich das
herrliche entzückende Antlitz, die ſchwellenden Lippen
berührten die ſeinen, die ganze Wonne, die er em-
pfnnden, durchſchauerte noch einmal ſeinen Körper —
ſein Haupt ſank zurück in die Kiſſen — er entſchlief.
Ein Lächeln umſpielte ſeine Lippen — ſein Mund
flüſterte heiße, zärtliche Worte — Worte unſäglicher
Liebe, glühenden Verlangens nach dem verführeriſchen
Weibe, das er vor wenig Stunden in den Armen ge-

halten. — Daheim im ſtillen Kämmerlein ruhte Käth-

chen, ihre Hände lagen ſtill gefaltet auf der weißen
Decke des ſauberen Bettes, auch ſie lächelte im Traum
auch ihre Lippen flüſterten Worte zärtlicher Freude:
Sie träumte von einem köſtlichen, beglückenden Wie-
derſehen: „Paul, mein Paul!“ — —
 
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