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Illustrierte Welt : vereinigt mit Buch für alle: ill. Familienzeitung — 23.1875

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Heft 3
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58

Illustri rte Melt.

die kurzen Kniehosen, die Jacke, die wieder lang war. Ein
Paar granwollene Handschuhe hing ihm an der Seite; ein
Doppelpaar eigentlich, ein fertiges und ein unfertiges; an
dem unfertigen hatte er wohl die Arbeit unterbrochen, und um
sie jeden Augenblick wieder aufnehmen zu können, hingen sie
da, zusammeugedreht um die hölzernen Stricknadeln.
So stand der alte Schäfer, an die alte, kahle und fahle
Esche gelehnt, wie ein riesiges, an fünf Ellen hohes Gebild,
mit dein Kopfe in dem Fuchspelze bis oben in die Zweige der
Esche hineinragend.
Er stand auf hohen Stelzen.
Die Schäfer in jener Gegend Waiden so ihre Schafe, sie
führend durch Bruch- und Moor- und Haideland, und auf
den Stelzen stricken sie, während die Heerde ihnen folgt; auf
den Stelzen ruhen sie aus.
Der alte Thomas war der Schäfer der Bauern der Bauer-
schaft Diek.
Des Dorfes Diek, würde man anderswo sagen; aber in
dem alten Westphalenlande lebten die Bauern schon zu Taci-
tus' Zeiten nicht in geschlossenen Dörfern, nnd so leben sie
noch auf ihren zerstreuten Höfen, die das Gerneindebedürfniß
jedesmal zu einer Genossenschaft, Bauerschaft, vereinigt hat.
Die Schafe waideten um den alten Schäfer, in der Haide,
unter den Bäumen, rechts und links, westlich und östlich und
kümmerten sich nicht darum, ob sie auf dem Boden der Bauer-
schaft oder auf dem der Diekburg ihre Nahrung fanden.
Auch der schwarze zottige Hund kümmerte sich nicht darum,
der unten an den Stelzen seines Herrn lag und mit den halb-
geschlossenen Augen Alles sah.
Der alte Schäfer Thomas selbst? Er hatte die Augen weit
offen, und sie waren so alt und grau; sie schienen das Graueste
und Aelteste an ihn: zu sein, und sie waren dennoch so sonder-
bar scharf und glänzend und stechend, und doch sah er in
seiner Nähe wohl nichts damit; sie waren unbeweglich in die
weite Ferne gerichtet, in die Haide und über sie hinweg in
das unendliche Blau des klaren Himmelsgewölbes.
So blicken die Augen eines Sehers und auch der west-
phälische Spökenkieken ist ein Seher, er schaut, er sieht den
Spuk.
Er fuhr auf, der alte Thomas, aus den Bildern, die er
sah oder träumte.
Ein rascher Schritt nahte sich in dem Walde; er kam von
Westen, aus dem herrschaftlichen Gutswalde; er betrat die
Lichtung der Haide.
Ein Jäger erschien unter den vordersten Bäumen, in
grauer Jagdjoppe, mit Jagdtasche und Gewehr, gefolgt von
dem braunen Hühnerhunde. Es war ein strammer Herr,
über die mittleren Jahre hinaus, stolz und finster; er ging
stolz und rasch vorüber; den Schäfer, an dem er nahe genug
vorbei mußte, sah er nicht, oder wollte er nicht sehen; er schien
eifrig etwas verfolgen und erreichen oder auch etwas ver-
meiden, — irgend einem Gegenstände oder Umstande entgehen
zn wollen; aber, war es dies, einer Flucht war dieser stolze,
finstere Mann nicht fähig.
Der alte Schäfer blickte ihm unbeweglich nach.
Nur die beiden Hunde hatten sich begrüßt, aber auch still,
ohne Laut; der schwarze Schäferhund wedelte leicht mit seinen:
zottigen Schwänze, und der braungefleckte Hühnerhund spitzte
die feinen Ohren. Die beiden Thiere kannten sich.
Auch ihre Herren kannten sich.
„Wohin geht denn Der?" fragte der Schäfer sich mit den
stechenden Augen; aber er mußte keine Antwort auf die Frage
haben; er schüttelte nur bedenklich den Kopf unter der tiefen
Pelzmütze.
Der Jäger war weiter in den Wald hincingegangen, nach
Osten zu, wo die Scheidung zwischen dem Gutswalde und der
Waldung der Bauern sein mußte.
Sein Schritt war auf Moos- und Haidegrund kaum ver-
hallt, als ein anderer Schritt wieder laut wurde. Er nahte
sich ebenfalls in dem Gehölze, aber er ging in einer entgegen-
gesetzten Richtung, von Osten nach Westen, in den: Bauern-
walds, blieb in diesem, aber hart an dessen Scheidung von
dem Gutswalde.
Man sah seine Gestalt, da er unter den vordersten Bäumen
vorüberging. Er war ein starker, kräftiger Bauersmann, der
gleichfalls in der Mitte der vierziger Jahre stehen, oder sie
schon überschritten haben konnte. Sein starkknochiges Gesicht
war voll Trotz und Groll. Er ging hastig vorüber; er ver-
folgte etwas mit dem Trotz und Groll seines Gesichtes; das
sah man deutlich; mit einem solchen Gesichte geht man Keinem
aus den: Wege. Er trug ein Gewehr, wie der Jäger; aber
er war ohne Jagdtasche, ohne Hund.
Den Schäfer hatte er nicht gesehen, auch nicht den Hund
des Schäfers, nicht die Schafe; seine Augen waren nur in
den Wald gerichtet, in den er so hastig und so zornig hinein-
schritt.
Der Schäfer kannte auch ihn, und der Hund des Schäfers
kannte ihn.
Der Hund sah nur blinzelnd zu seinem Herrn hinauf,
als wenn er ihm sagen wolle: das ist ein guter Bekannter;
ich lasse ihn passiren.
Aber die Augen des Schäfers waren unruhig geworden.
„Ob auch ich ihn gehen lasse? Wenn die Beiden sich
träfen! Gerade heute!"
Dann horchte er, und man sah ihn: die Spannung an,
mit welcher er horchte.
Der Schritt deS Bauern war verhallt, wie der des Jä-
gers. Es herrschte Stille rund umher, die der Haide, die des
Waldes. Die Schafe grasten, der Hund lag wieder und
blinzelte mit den wachsamen Augei:; der Schäfer auf seinen

hohen Stelzen ragte wie ein riesiges altes Haidebild an der
alten Esche hinauf.
Da fiel im Walde ein Schuß.
Fiel nicht ein zweiter?
Oder waren nicht zwei zugleich in derselben Sekunde ge-
fallen?
Die Schafe grasten ruhig weiter.
Der Hund fuhr auf, sah seinen Herrn an. .
Der Schäfer stand auf seinen Stelzen ruhig, wie eine
Bildsäule. Nur seine Lippen bewegten sich leise:
„Wäre es vorbei? Es wäre viel altes Herzeleid vorüber!
Und neues begänne!"
Der Hund hatte sich nicht wieder gelegt, er spitzte die
Ohren, aber nach einer anderen Richtung, als in welcher der
Schuß oder die Schüsse gefallen waren.
Mit eilenden, fast laufenden Schritten kam dort aus dem
Dickicht des Bauernwaldes ein Jäger, von einem Hühnerhunde
gefolgt, hervor. Er eilte der Gegend zu, wo geschossen war.
Er mußte an dem Schäfer vorbei; er sah ihn; er machte
Halt.
„Wo wurde geschossen?" fragte er den alten Mann auf
den Stelzen. Er fragte es barsch, herrisch.
Er war ein noch ziemlich junger Mann, dieser Jäger oder
Förster; er trug die Uniform der königlichen Förster, und zu
den: Jagdgewehre an der Seite den Hirschfänger.
Herrisch, wie eines Beamten, der sich fühlt, war auch der
Ton seiner Stimme.
Der Gendarm, der Polizeidiener fühlt sich überall als den
souveränen Herrn, der Förster in seinem Walde.
„Aber wo ist chier sein Wald?" fragten die Augen des
Schäfers den Förster; und sie fragten es mit Ingrimm, wie
sie den Mann mit Widerwillen anblickten.
Der Schäfer und der Förster waren keine Freunde. Sie
konnten es nicht sein, obwohl nie der Eine den: Andern etwas
zu Leide gethan hatte. Der Eine war der alte Mann der
westphälischen Haide, auf der er geboren und alt geworden
war und auf der auch seine Vorfahren den Tag gesehen und
alt gestorben waren, und er war der Beherrscher dieser Haide.
Der Andere war ein fremder Neuling und Eindringling.
„Von jenseits der Elbe," sagte der Schäfer sich, „aus dem
Preußenlande, wo er hungerte, bis sein König ihn hierher
auf die fette Waide schickte, wo er sich satt gegessen hat und
nun gleich den Herrn machen will!"
Auch die beiden Hunde hatten schon den Haß der Nasse
gegen einander. Sie wiesen sich die Zähne und knurrten und
sahen sich ingrimmig an, und sie wären schon über einander
hergefallen, wenn ihre Herren nicht dabei gewesen wären.
Der Schäfer hatte dem Förster auf seine Frage keine Ant-
wort gegeben.
„Werdet Ihr mir antworten?" rief befehlend der Förster.
„Fragtet Ihr etwas?"
„Ich fragte, wo geschossen ist."
„Habt Ihr ein Recht zu der Frage?" .
„Ich bin königlicher Förster!"
„In der königlichen Forst! Wo wäre die hier? Ich sehe
hier nur den Wald des Grafen zur Diekburg auf der einen,
und der Baucrschaft Diek auf der anderen Seite."
Aber in dem Walde der Bauern ist die Jagd königlich.
„Hört, fremder, preußischer Mann, um das zu wissen,
seid Ihr noch viel zu jung an Jahren und viel zu neu im
Lande. Lasset das die Gerichte ausmachen, bei denen die
Sache schon liegt. Und nun lasset meine Schafe in Ruhe
grasen."
Der Schäfer sprach mit der eisernen Ruhe des Höheren.
Ter junge Förster war in den: Eifer des Befehlenden, dessen
Befehle Haß statt Gehorsam finden. Er hatte aber die Ein-
sicht, zu erkennen, daß sein Eifer dem alten ruhigen Mann
gegenüber lächerlich werde. Er ging mit seinem Hunde in
den Wald hinein.
Der Schäfer war wieder allein mit seinem Hunde und
seinen Schafen, und mit der tiefen Stille rings umher, aber
auch mit der Unheimlichkeit dieser Stille. Es blieb nicht
lange so.
Hinten aus der Tiefe der Haide tauchte eine dunkle Gestalt
empor.
Durch die Haide führten mancherlei Wege, sich mannig-
fach kreuzend und verschlingend, Fuß- und Fahrwege, nach
den verschiedenen Bauerschaften, von denen sie umgeben war,
nach den einzelnen Höfen in Liesen Bauerschaften, nach ihren
Holzungei:, nach dem kleinen Landstädtchen am jenseitigen
Ende hinter seinem Stadtwalde, nach dem Kirchdorfs auf der
anderen Seite, nach der Diekburg an dem anderen Ende.
Haus Diekburg war das einzige adelige Gut, dessen Be-
sitzungen an die Haide grenzten; es gehörte dafür zu den
größten Gütern des Münsterlandes.
In einem der Wege, die durch die Haide liefen, tauchte
aus dem grauen Haidekraut die dunkle Gestalt auf. Der
Schäfer erkannte bald einen Kapuziner und er kannte diesen
Kapuziner.
Der Mönch kam näher. Er ging langsam, in seinem
Brevier betend; das kleine schwarze Buch hielt er in der linken
Hand; in der rechten trug er einen derben Knotenstock; an
dem weißen Strick, der das braune Habit um seinen Leib
gürtete, hing der dunkle Rosenkranz.
Er mar ein kleiner, dürrer Mann. Er war schon alt;
der Kranz der Tonsur auf seinem Scheitel bestand nur noch
aus wenigen dünnen, weißen Härchen; sein langer Bart war
schneeweiß. Er war trotz seines Alters rüstig; er stützte in:
Gehen sich nicht auf seinen Knotenstock; sein langsamer Schritt
war leicht und konnte auch wohl behender werden. In dem

blassen, mageren Gesichte blickten ein paar lebhafte, kluge
Augen. Einen besonderen Ausdruck hatte das Gesicht sonst
nicht; das stete, gewohnheitsmäßige Abbeten des Breviers
gibt wohl keinem Gesichte einen Ausdruck.
Seine lebhaften Augen sahen trotz Brevier schon von Weitem
den Schäfer, und die Augen des Schäfers wurden lebhafter,
als sie den Mönch sahen. Aber ruhig blieben Beide; der
Mönch betete weiter, und der Schäfer lehnte auf und nut
seinen Stelzen still an die Esche und sah dem Grasen seiner
Schafe zu.
Der Weg, in dem der Mönch aus der Haide kam, führte
ihn zehn Schritte vor dem Schäfer vorbei. Als er ihm gerade
gegenüber war, klatschte er sein Brevier zu, legte vorher den
Zeigefinger hinein auf das Blatt, an dem er sein Gebet
unterbrach, blieb stehen und wandte das Gesicht zu dem Schäfer.
„Guten Tag, Thomas!"
Hatte er doch ein paar Sekunden gewartet, ob der Schäfer
zuerst ihn ansprechen werde. Oder kannte der eine Alte den
Andern?
„Guten Tag, Pater Engelbert!"
Dann waren Beide stumm, wie sie Beide unbeweglich
standen. Jeder schien in der That zu warten, daß der Andere
weiter sprechen werde.
Der Mönch sprach zuerst.
„Wir sahen uns lange nicht, Thomas!"
„Seit sechs Wochen nicht, Pater Engelbert!"
Dann entstand wieder eine stumme Pause.
Dann sprach wiederum der Mönch zuerst.
„Hast Du mir nichts zu sagen, Thomas?"
Es war eine Brücke, die der Mönch baute; aber nur eine
halbe; die andere Hälfte sollte der Andere legen.
Der Schäfer that es, freilich in seiner Weise, in der er
sich nichts vergeben wollte.
„Pater Engelbert," sagte er, „Ihr hättet wohl anfangen
können und mir sagen, was Euch hierher in die galmer Haide
bringt, und durch die Haide in die Bauerschaft Diek und
gerade hierher in die Nähe des Marsmann'schen Gehöftes
und auch an die Grenze des Hauses Diekburg; daß Ihr nicht
umsonst hier seid und daß Ihr auch just von mir etwas
wollt, das wißt Ihr am besten, und darum wäre es wohl
an Euch gewesen, frisch von der Leber zu sprechen; dazu seid
Ihr der Jüngere von uns Beiden; und wenn Ihr auch ein
geistlicher Herr seid und ein gelehrter Mann dazu, der predigen
und lateinisch die Messe lesen und die Beichte hören kann, so
waren wir doch immer einmal Kameraden, und ich war der
Aeltere um manches Jahr und der Stärkere und hielt manchen
Schabernak und Hieb der anderen Buben von Euch ab, und
der Aeltere bin ich auch heute noch. Nun, was wollt Ihr
hier?"
Durch das feine, blasse Gesicht des Mönches glitt ein
leises, kaum spöttisches Lächeln.
„Predigen könntest auch Du zur Noth, alter Freund
Thomas, und was die Gelehrsamkeit betrifft, so habe ich zwar
Manches auf der Erde gesehen und von manchen Dingen im
Himmel gehört, mehr aber nicht; Du dagegen kennst die
Dinge zwischen Himmel und Erde, siehst Wesen und sprichst
mit ihnen, von denen wir anderen Menschen kaum eine Ahnung
haben —. Doch lassen wir das, alter Freund Thomas. Wie
sieht es hier aus?"
Die Brücke zwischen den beiden alten Kameraden war
ganz fertig gebaut.
„Wenn Ihr zu dem Bauern wollt" — sagte der Schäfer,
und er wartete eine Antwort des Mönches ab.
„Bei ihm vorbeigehen möchte ich wenigstens."
„So möchtet Ihr ihn nicht zu Hause finden."
„Du weißt, wo er ist?"
„Wenn er noch am Leben ist" — crwiederte der Schäfer,
nnd er wartete wieder auf eine Unterbrechung.
„Ha," ries der Mönch, „noch an: Leben? Was ist es
denn mit ihm? Ist er krank?"
„Vor einer Viertelstunde ging er noch frisch und gesund
hier vorüber."
„Und seitdem?"
„Seitdem sah ich ihn nicht wieder. Aber fünf Minuten
darauf hörte ich im Walde einen Schuß fallen, oder auch
zwei, und fünf Minuten vor den: Bauern war der Graf hier
vorbeigekommen und gleichfalls in den Wald gegangen."
„Und was ist weiter geschehen?" fragte der Mönch.
„Ich weiß weiter nichts."
Der Kapuziner war unruhig geworden.
„Der Graf und der Bauer! Ter Bauer? Du meinst
doch den Marsmann?"
„Den Meier Marsmann."
„Und zwei Schüsse hörtest Tu?"
„So meinte ich. Sie trugen auch Jeder sein Jagdgewehr
bei sich, als sie hier vorüber gingen, und Zorn und Groll
sah man genug in ihren Gesichtern."
„Du hattest nicht gehört, daß sie etwas nut einander ge-
habt hatten?"
„Kein Wort. Aber müssen die Beiden denn noch etwas
mit einander haben? Ist es für sie nicht gering, wem: sie
sich nur im einsamen Walde treffen?"
Der Mönch stand nachsinnend.
„Und dann," fuhr der Schäfer fort, „soll gerade heute
in: Schlosse die Verlobung sein. Ihr wißt es doch?"
„Ich weiß es. Aber was hat die Verlobung mit ihrem
Streite zu schaffen?"
„Nun, da sind ihnen Beiden wohl allerlei Gedanken in
der: Sinn gekommen, alte und neue. Ihr habt auch Euern
Theil daran."
 
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