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Illustrierte Welt : vereinigt mit Buch für alle: ill. Familienzeitung — 50.1902

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Heft 7
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150

Illustrierte Welt

einem Mitmenschen, nach Gottes Ebenbild erschaffen,
sollte das Leben nehmen können?" Er lehnte die
Stirn gegen die eine Hand und fuhr in einem ganz
andern Ton fort- „Sobald ich de Vließ treffe, will
ich ihm sagen: ich lege meine Waffen nieder, denn
man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.
Der Kommandant wird mich sicher verstehen, wenn
er auch meine Handlungsweise nicht billigt, aber,"
und er senkte noch bekümmerter seinen Kopf, „bis ich
ihm alles gesagt, kann ich die Männer hier nicht ver-
lassen und gehen, wie ich gekommen bin."
„Meinst du damit, daß du dich schlagen mußt,
falls ihr..."
„Werde ich dazu gezwungen, so muß es geschehen;
beten Sie, daß wir keinem von denjenigen begegnen,
die sich unsre Feinde nennen!"
„Das werde ich und auch für dich und deinen Sohn
— es ist schrecklich, Blut aus dem Haupt eines un-
schuldigen Kindes zu sammeln —, und ich hoffe, daß
sich kein Hindernis auf uuferm Wege erhebt. Du
glaubst ja, daß wir . . . daß wir den Kommandanten
bald finden werden?"
„Er marschierte gegen Süden, als ich mit den
Männern aus meiner Heimat auszog, um zu sehen,
wo die Engländer sich aufhalten. Mehr als die, welche
dort schlafen, haben wir nicht gesehen, und es dauert
wohl noch lange, bis ein Kampf in diesem Teil des
Landes stattfindet. Wenn ich de Vließ gesagt habe,
was er zu wissen wünscht, so habe ich mein Versprechen
gehalten, und wenn ich dann beifüge, daß mein Herz
bittere Trauer über das empfindet, was rings um mich
geschieht, so wird er es verstehen, denn er ist mein
Freund. Unsre Wege trennen sich; ich reite heim aus
meinen Hof, ich will mein Land bebauen und meinen
Sohn zu einem Menschen erziehen. Und was auch
geschehen mag, den Drücker meines Gewehres berühre
ich nicht mehr mit meinem Zeigefinger; ich bin ein
freier Mann, der sein Schicksal selbst bestimmt."
Ein Windstoß pfiff klagend über die stille Ebene,
wie wenn verborgene Mächte ihn gesandt hätten, den
Mann zu warnen, der, gerührt von dem Ernst des
Augenblickes, die Kraft zu besitzen glaubte, sich selbst
den Weg vorzeichnen zu können, dem er folgen wollte.
Aber er gab nicht acht darauf, und der Alte an seiner
Seite merkte es ebensowenig, er sagte nur innig:
„Möge es dir gelingen, Abraham!"
„Es soll," lautete die ruhige Antwort.
„Aber vergiß nicht, daß man dich schmähen und
verhöhnen wird, Abraham! Mache dich stark, mein
Sohn!"
„Schmähungen fürchte ich am wenigsten von allem,
und obschon ich weiß, wie schwer es ist, mitten im
Krieg Frieden zu halten, so vertraue ich doch auf den,
der mir Kraft gegeben hat, diesen Entschluß zu fassen;
er lenket meine Schritte, ich habe bloß weiter zu
gehen."
Es lag eine solche Zuversicht in diesen Worten,
daß der Alte seine Augen feucht werden fühlte.
„Ich habe einen herrlichen Sieg errungen!" rief
er aus, indem er seine Hände mit der Zuversicht eines
Schwärmers in die Höhe hob, und fügte dann zum
zweitenmal hinzu: „Möge es dir gelingen, Abraham,
möge es dir gelingen!"
„Warum sollte es nicht gelingen? Nicht zu zwei-
feln sei Gelingen, haben Sie mir selbst gesagt."
„Es sollte so sein, mehr weiß ich nicht."
Eine Pause des Schweigens entstand.
Das, was hier geschehen war, war etwas sehr Ein-
faches, wenngleich nicht Alltägliches. Mitten im Lärm
der Schlacht hatte ein Mann die Stimme des Ge-
wissens vernommen; das einzige Merkwürdige war,
daß er sie angehört hatte. Und dann kam ein andrer
Mann, ein Greis, der den Glauben des Kindes treu
und fest bis in den Winterabend seines Lebens be-
wahrt hatte, und sagte ihm, daß er recht gehört habe.
Da beugte sich der andre Mann, und unbekümmert
um alles andre gehorchte er jener Stimme.
Die Brände im Feuer verkohlten und sanken mit
einem schwachen Geprassel zusammen, ein kühler Luft-
zug spielte mit den letzten bläulichen Flammen, und
um das Lager stand das Dunkel noch immer gleich
dicht und undurchdringlich. Alle bis auf einige Schild-
wachen schienen zu schlafen, und das Schweigen lag
so mächtig um alles, daß ein jeder, der genötigt war,
eine Bewegung zu machen, sich unfreiwillig auf das
Geringste beschränkte. Die beiden Männer verließen
ihren Platz und näherten sich den Gefangenen. Stumm
gingen sie an den schlafenden Dragonern vorüber
und kamen in die Nähe der beiden Offiziere, die mit
Aufbietung ihrer letzten Kräfte sich wach hielten und
warteten, ohne zu wissen auf was. Die beiden Männer
blieben vor ihnen stehen, und der größere fragte leise:
„Schlaft ihr?"
„Nein. Und wir sehen es lieber, wenn man uns
in Ruhe läßt."
Weder der trotzige, feindliche Ton, noch die un-
geduldige Bewegung, welche die Worte begleitete,
machte einen Eindruck auf die Männer. Sie standen

unbeweglich, und derjenige, der die Frage gestellt hatte,
sagte gleichsam erklärend:
„Mein Name ist van der Nath, Feldkornett."
Die Offiziere erhoben ihre müden Augenlider und
sahen ihn neugierig an. Im Dunkel unterschieden sie
eine sechs und einen halben Fuß lange Riesengestalt
mit erstaunlich breiten Schultern. Und wenn ein
Feuerbrand aufflammte und eine Sekunde die nächsten
Gegenstände beleuchtete, so beobachteten sie ein Paar
klare, freundliche Augen, die forschend geradeaus
blickten, als ob sie etwas mehr als nur die äußere
Hülle hätten sehen wollen, und nun fiel ihnen auch
der große Bart auf, der feingekräuselt und lang die
mächtige Brust bedeckte. Kein sichtbares Zeichen ver-
riet seinen Rang, das einzige, was ihn möglicher-
weise von der Umgebung unterschied, war eine selbst-
bewußte Sicherheit, wahrscheinlich eine Folge der
Gewohnheit des Befehlens.
„Ich möchte bloß fragen, ob Sie etwas wünschen,"
sagte er ruhig.
„Danke, wir brauchen nichts!" ertönte es gleich-
zeitig von feiten der beiden Offiziere. Sie glaubten
zu wissen, was ihre Stellung verlangte, und obschon
ein böser Zufall sie zu Gefangenen gemacht hatte, so
wollten sie doch nicht durch Nachgiebigkeit eine bessere
Behandlung für sich als die Kameraden im Unglück
beanspruchen.
„Gut!" erwiderte van der Nath mit der gleichen,
nach Ansicht der Offiziere empörenden Gelassenheit.
„Wenn Sie beide mir Ihr Wort darauf geben, keinen
Fluchtversuch machen zu wollen, solange wir auf dem
Marsch sind, so sollen Sie. . ."
„Wir versprechen nichts," unterbrach ihn Leutnant
Kennedy kurz.
Der Feldkornett wog nachdenklich sein Gewehr in
der Hand, und nach einer Weile kam seine Antwort,
langsam und bedächtig:
„Ja, dann kann ich nichts mehr für Sie thun;
Sie werden behandelt werden wie die andern Ge-
fangenen."
„Das ist gerade, was wir wünschen."
„Gute Nacht, nein, guten Morgen!" Er lachte
sanft und freundlich tief in der Brust und fügte dann
hinzu: „Wir brechen früh auf, so daß Sie am klügsten
daran thun, vorher eine halbe Stunde zu schlafen.
Es giebt keine langen Rasten auf unsrer Fahrt, wir
haben Eile."
„Wir würden Ihnen äußerst verbunden sein, wenn
Sie uns mit Ihren Räten verschonen wollten. Was
mich betrifft, so hoffe ich, daß wir, was den Schlaf
betrifft, nach eignem Gutfinden handeln dürfen."
Die zuerst freundliche Miene van der Naths zeigte
jetzt unverhohlene Verwunderung, und er gab sich die
überflüssige Mühe, sich abzuwenden, um sie zu ver-
bergen. Er begriff augenscheinlich gar nicht, wie seine
von Wohlwollen eingegebenen Worte auf diese Weise
ausgenommen werden konnten, aber er wurde nicht im
geringsten beleidigt durch den scharfen Ton. Die Züge
seines Gesichtes glätteten sich schnell, und dem freund-
lichen Ausdruck folgte jene scheue Verwunderung, wie
es bei guten Menschen nach einem begangenen Miß-
griff meist der Fall ist.
Leutnant Kennedy, der ihm geantwortet hatte, sah
seinen Kameraden siegesstolz an. Er war froh darüber,
daß er diesen Riesen in Verlegenheit gebracht hatte,
und fühlte einen Genuß dabei, als er ihn wie einen
ausgescholtenen Schuljungen vor sich stehen sah; eine
solche Lektion gegeben zu haben, war ein Trost, und
eiskalt höflich schloß er das kurze Gespräch mit den
Worten ab:
„Guten Morgen, meine Herren!"
Van der Nath nickte stumm und wandte sich halb
um, bereit zu gehen, als sein Begleiter vortrat und
mit dem halb müden, halb ungeduldigen Widerwillen
eines alten Mannes vor dem so oft rücksichtslosen
Uebermut der Jugend äußerte:
„Nicht so, Jüngling, nicht so! Denken Sie an
die Lage, in der Sie sich befinden!"
„Ich vermute, daß Ihre Worte keine Drohung
enthalten?"
„Behüte mich Gott davor, einem Gefangenen zu
drohen, nein, nein!" Der Greis — denn das weiße
Haar, das auf seine Schultern herabfiel, bewies, daß
er mindestens siebzig Jahre zählte — zog aus einer
Tasche seines weiten Rockes ein dickes Buch, das er
öffnete. „Da Sie nicht zu schlafen wünschen, so haben
Sie wohl nichts gegen ein Gespräch?"
Leutnant Kennedy, welcher die ganze Zeit das
Wort geführt hatte, schielte mißtrauisch nach dem
Buche in der Hand des Greises, ehe er etwas ver-
ächtlich antwortete:
„Sie brauchen sich nicht mit Bekehrungsversuchen
zu bemühen, ich bin Christ."
„Ach, wie viele behaupten, das zu sein, und wissen
nickt einmal, was das Wort Christ besagt."
„Ich schmeichle mir damit, es zu sein, nichts
weiter."
Der Feldkornett berührte den Arm seines Begleiters,

als ob er ihn mahnen wollte, den nutzlosen Disput
aufzugeben und zu gehen, aber der Alte schüttelte
energisch seinen Kopf und fagte:
„Ich will sprechen. Bald geht die Sonne, die auf
Gute und Böse scheint, zu einem neuen Tage auf,
und sie wird aufs neue finden, wie die Menschen nur
thun, was böse und thöricht ist."
Seine Stimme, die zuerst schwach und spröde klang,
wurde nun stark und volltönig.
„Junge Männer, wißt ihr, was dieser Krieg ist?"
Er erwartete keine Antwort, sondern fuhr sogleich fort:
„Nein, ihr nicht, und auch keiner von den zweimal-
hunderttausend Engländern, die auf den Ebenen dieses
armen Landes umherstreifen, wissen, warum sie sich
schlagen und töten. Und ich wage zu behaupten, daß
auch kein andrer es weiß, ich ebensowenig als Sie.
Ich weiß nur, daß sich hier überall etwas Ungeheuer-
liches zuträgt, daß es sich von Tag zu Tag wieder-
holt, größer und unbezwingbarer wird, und daß rings
um mich Haß und Bosheit herrschen."
Leutnant Kennedy zuckte ungeduldig die Schultern,
und als der Alte dieses sah, fuhr er schnell fort:
„Aber was ich weiß, das ist, daß der Gott, den
wir alle anzubeten behaupten, uns geboten hat, unfern
Nächsten ebensosehr zu lieben wie uns selbst. Doch
wer thut das, wer? frage ich. Alle, Sie und wir,
haben Gesetze, denen zu gehorchen unsre Pflicht ist,
sonst werden die Ungehorsamen bestraft. Die schlimmste
Strafe trifft den Mörder, und dies ist ja gerecht,
oder nicht? Aber hier werden Männer zu Hunderten
getötet, menschliche und göttliche Gebote mit Füßen
getreten, und ein neues Gesetz, das das Verbrechen
mit Medaillen, Lobreden und äußerlichen Vorteilen
belohnt, ist für diese Gelegenheit gestiftet worden.
Das ist der Krieg, werden Sie antworten. Kann
dies zur Erklärung und Entschuldigung dienen? Blut-
vergießen widerstreitet der Religion, die wir alle be-
kennen, den Geboten der Moral, einer Zivilisation,
auf die Sie mit Recht stolz sind.
„Sie antworten, daß Sie Befehlen derjenigen ge-
horchen, welche die Macht besitzen, solche auszuteilen.
Aber ist es eines Menschen mit freiem Willen würdig,
immer zu gehorchen und nie zu denken? Wozu dient
dann Ihre Vernunft, und wie können Sie mit Ver-
achtung auf die Wilden niedersehen, die sich aus ihre
Waffen verlassen nnd mit ihnen ihre Streitigkeiten
entscheiden? Zu denken, unsre Vernunft zu benutzen,
ist ja alles, was wir sollen, und das einzige, das wir
nicht thun. Warum, warum?
„Und alle die Männer, Frauen und Kinder, die
das Unglück in einem vom Krieg heimgesuchten Land
hinmordet, was haben sie Böses gethan? Nicht das
geringste. Und Sie selbst, was wissen Sie vom Krieg,
diesem oder einem andern? Gleich viel, wie wir. Ach,
Frieden, Frieden! bittet die ganze Welt, und Krieg,
Krieg! antwortet es überall. Wann werden wohl die
Menschen aufhören, einander Ungerechtigkeiten zuzu-
fügen?"
Niemand antwortete, und der Greis hatte jedenfalls
auch nicht erwartet, daß jemand dies thun werde. Er
hielt jäh inne, als ob seine Kräfte erschöpft wären,
und die Zuhörer vernahmen nur ein schwaches Ge-
murmel, das klang wie: „Frieden auf Erden und au
den Menschen ein Wohlgefallen!"
Es wurde eine Weile peinlich still. Leutnant
Kennedy gelang es zuerst, sich von dem unangenehmen
Gefühl zu befreien, und er musterte, so genau es das
Dunkel erlaubte, den Alten. Der Jüngling konnte
sich nicht rühmen. Menschenkenner zu sein, aber er
hatte bald gesehen, daß der große Feldkornett und
der Greis neben ihm zwei gute, harmlose Menschen
seien, denen gegenüber es ihn reizte, "die dialektische
Ueberlegenheit des Gebildeten an den Tag zu legen.
Aber war er wirklich einfältig, der große, schwer-
fällige Riese, der, auf sein Gewehr gestützt, dort stand
und andächtig jedes Wort von den Lippen des andern
verschlang? Und dann dieser Alte, wer war er
eigentlich? Er hatte sich nicht vorgestellt und mit
keinem Wort seinen Beruf angedeutet. Daß er Pre-
diger war, das verrieten die Kleider, aber die beiden
englischen Offiziere hatten bereits dem Scheine miß-
trauen gelernt; sie warteten mit ihrem Urteil. In-
dessen schien ihnen das Schweigen zu lange zu dauern,
und ruhig, fast wohlwollend begann Leutnant Kennedy:
„Sie verabscheuen Streit und Blutvergießen,
Herr..., Herr..." Er machte absichtlich eine Pause,
um dem Alten Gelegenheit zu geben, seinen Namen zu
nennen und seine gesellschaftliche Stellung; der aber
verstand ihn nicht und machte keine Miene, die Pause
mit einer Antwort auszufüllen. Der Leutnant zuckte
wieder die Schultern, sie besaßen ja nicht einmal die
einfachsten Begriffe von Lebensart, diese beiden, und
spöttisch fragte er: „Aber warum kämpfen Sie denn,
warum ergeben Sie sich nicht?"
„Junger Mann," fiel der Feldkornett bitter ein,
„wenn der Feind in Ihr Land einbräche, würden Sie
sich dann ohne weiteres ergeben und die Nationalität
wechseln?"
 
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