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Illustrierte Welt : vereinigt mit Buch für alle: ill. Familienzeitung — 50.1902

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Heft 23
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https://doi.org/10.11588/diglit.56970#0544
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Heimweh.
Roman
von
Aeinhold Hrtmann.
Neunzehntes Kapitel.
drei Stunden hatte Else Flemming am Vormittag
nach der Rinkhardtschen Abendgesellschaft trotz des schnei-
dend kalten Nordostwindes auf der Eisbahn ausgeharrt;
dann war sie durchfroren, enttäuscht und in der übelsten
Laune von der Welt nach Hause zurückgekehrt. Rolf Artners Aus-
bleiben hatte sie mit Hellem Zorn erfüllt, und sie war fest ent-
schlossen, ihn sehr empfindlich dafür zu bestrafen.
Denn es war der erste wirkliche Gunstbeweis gewesen, den sie
ihm gestern mit der Verabredung dieses Stelldicheins gewährt hatte.
Nicht auf jenem abgesteckten, spiegelblank gefegten Teil des
Flusses, wo sich gegen Erlegung eines ziemlich hohen Eintrittsgeldes
die vornehme Welt dem lustigen Schlittschuhsport hingab, und wo
man zehnmal in jeder Minute an irgend einem neugierig gaffenden
Bekannten vorüberglitt, hatte sie ja m'it ihm zusammentreffen wollen,
sondern weit draußen hinter dem Fährhause, wohin sich nur noch
vereinzelt die wirklichen Eislaus-Enthusiasten zu verirren pflegten.
Lange und dringend hatte sie ihn darum bitten lassen, ehe sie ihre
anfängliche, entschiedene Weigerung zurücknahm. Und so heiß war
sein Dank für die endlich errungene Zusage gewesen, daß sie
wahrlich auf alles andre eher gefaßt gewesen wäre als darauf,
ihn nun vergebens erwarten zu müssen.
Sie war der Macht, die sie bereits über ihn gewonnen hatte,
zu gewiß, als daß sie auch nur einen einzigen Augenblick an die
Möglichkeit einer beabsichtigten Kränkung geglaubt hätte. Aber
auch, daß er sich durch irgend welche Hindernisse hatte fernhalten
lassen, konnte sie ihm nicht verzeihen. Denn welcher Art auch
immer diese Hindernisse sein mochten, es mußte ihr als eine üble
Vorbedeutung für die Zukunft erscheinen, daß er nicht stark genug
gewesen war, sie aus dem Wege zu räumen. Noch war ja kein
Wort von Liebe zwischen ihnen gesprochen worden; aber seit dem
Moment, da sie sich zum erstenmal als seine Tänzerin in Rolf
Artners Arm geschmiegt hatte, war Else fest entschlossen gewesen,
diesen Mann für sich zu gewinnen. Seine bestechende männliche
Schönheit, seine strotzende Lebenskraft hatten eine Leidenschaft in
ihrem Herzen angefacht, deren sie selbst sich vielleicht bis dahin kaum
fähig geglaubt. Und wie eine unzweifelhafte Gewißheit hatte sie
schon in jener Stunde empfunden, daß es kein andres Glück mehr
für sie gab als ein Leben an seiner Seite. Daß sie die Verlobte
eines andern Mannes war und er der Gatte eines andern Weibes,
hatte die zehrende Glut in ihrem Blute vielleicht nur noch mehr
geschürt, statt sie zu dämpfen. Denn der schwer zu erringende
Preis lockte tausendmal süßer als. ein Glück, das ihr mühelos in
den Schoß gefallen wäre. Ihre eignen Fesseln zwar dünkten sie
so leicht und schwach, daß es nur eines ernstlichen Wollens be-
dürfen würde, sie zu zerbrechen. Die Scheidewand aber, die nach
göttlichem und menschlichem Gesetz durch seine Ehe zwischen ihnen
aufgerichtet war, ließ sich nicht mit raschem Entschluß niederreißen
durch ein einziges entscheidendes Wort. Nur rücksichtsloser Mut
und eiserne Beharrlichkeit konnten sie über das Hindernis hinweg
zu einander führen. Und weil sie Rolfs heutiges Ausbleiben als
einen Mangel an solchem Mute deutete, war es für Else Flemming
viel mehr als nur eine flüchtige, rasch vergessene Enttäuschung.
Während sie sich aus ihrem Heimweg gegen den schneidenden
Winterwind vorwärts kämpfte, fühlte sie sich unausgesetzt von der
quälenden Furcht gepeinigt, daß all ihre berauschenden Hoffnungen
an der Schwäche dieses Mannes zu Schanden werden könnten-
2llustr.W-U.1gv2. 23.



Unerreichbar. Nach dem Gemälde von Fred Morgan.
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