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Illustrierte Welt : vereinigt mit Buch für alle: ill. Familienzeitung — 50.1902

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Heft 25
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https://doi.org/10.11588/diglit.56970#0590
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Die Geiosevin.
Erzählung
von
Mäander Körner.
I
^^^.raußen heulte der Schneesturm. Drinnen
in dem kleinen Zimmer schüttete eine
OAZ Achtzehnjährige mit glühend heißen Wan-
gen ihr Herz aus vor der älteren Freun-
din, ihrer Lehrerin.
„Ich mußte erst hierher laufen zu Ihnen,
Fräulem Toni, ich mußte es Ihnen zuerst sagen."
„Gott segne dich, Kind, bleibe so glücklich,
wie du dich heute fühlst."
„O Fräulein Toni, daß es so viel Seligkeit
giebt! Morgen kommt er und hält um mich an bei
den Eltern. Ich weiß es, daß sie ja sagen, er
ist ja solch ein einziger, prachtvoller Mensch, und
dann verloben wir uns unter dem Weihnachts-
baum offiziell. Ist das nicht himmlisch, nicht un-
endlich poetisch, Fräulein Toni?"
Die Augen der Achtzehnjährigen strahlten, und
Toni Helmersen, die achtunddreißigjährige, staat-
lich geprüfte und seit zehn Jahren an der höheren
Töchterschule angestellte Lehrerin sah gutmütig
lächelnd, ein klein wenig spottend auf die Erregte,
die sich in ihrem Glückstaumel gar nicht zu fassen
wußte.
„Ja, Kind, die Wogen gehen hoch, es ist
das richtige himmelhoch Jauchzen."
„Fräulein Toni, ich begreife es eigentlich
nicht, warum Sie sich nicht verheiratet haben.
Sie — so frisch und lustig, so klug und gut.
Sie waren gewiß auch hübsch in Ihrer Jugend."
Die naive Kleine hatte keine Ahnung davon,
daß ihre Worte verletzend klingen könnten für
die, an die sie sie richtete. Ueber Toni Helmersens
Züge war ein flüchtiges Zucken geflogen, von der
mit sich allein beschäftigten jungen Braut un-
beachtet; dann lachte sie unbefangen und herzlich.
„Mein liebes Kind, wenn nun solch ein Ein-
ziger und Rechter nicht auftaucht, während man
Achtzehn oder Zwanzig zählt und noch die köstliche
Vergrößernngsbrille trägt, die uns den Herrlich-
sten von allen' vorzaubert, dann ist's allemal eine
bedenkliche Sache. Als ich achtzehn Jahre alt war,
hockte ich über den Büchern und arbeitete unver-
drossen, denn niemand sonst arbeitete für mich.
Ich stand schon damals auf eignen Füßen."
„O Gott, wie gräßlich! Armes Fräulein Toni!"
„Kindskopf! Als ob das etwas Schreckliches
gewesen wäre; ich fühlte mich sehr frisch und froh
dabei."
Endlich verabschiedete sich die Kleine. Toni
drückte einen herzlichen Kuß auf die frischen Lippen
und geleitete die Scheidende hinaus bis zur Haus-
thür und sah ihr noch nach, als sie mit leichten,
beflügelten Schritten dahin eilte mit ihrem liebe-
seligen Herzen.
Dann riß der Sturmwind Toni den schweren
Thürflügel aus der Hand, er fiel krachend ins
Jllustr. Welt. IS02. 25.

Im Biergarten. Nach dem Gemälde von K. Egersdörfer.
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