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Illustrierte Welt : vereinigt mit Buch für alle: ill. Familienzeitung — 50.1902

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Heft 24
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https://doi.org/10.11588/diglit.56970#0567
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Heimweh.
Roman
von
Weinhold Hrtmann.
Eimmdzwanzigftes Kapitel.
ie vor einer übernatürlichen Erscheinung war
Rolf Artner in äußerster Bestürzung zurück-
geprallt, als er Else Flemming, die kurz vor
Tuimas Heimkehr das Haus betreten hatte,
plötzlich auf der Schwelle seines Zimmers stehen sah.
Sie hatte sich nicht uin den Einspruch des erstaunten
Dienstmädchens gekümmert und mit großer Bestimmtheit
erklärt, daß sie nicht erst gemeldet werden wolle. Rur


den Weg zu dem Gemach, in dem sie den Hausherrn
finden würde, hatte-sie sich zeigen lassen, und nach einem
kurzen, energischen Pochen hatte sie die Thür geöffnet,
ohne auch nur eine Aufforderung zum Eintritt abzu-
warten. Wenn man so fest entschlossen war wie sie,
sich über alle Rücksichten und alle Gebote der Sitte hin-
wegzusetzen, brauchte man es mit der Beobachtung der
kleinen Anstandsvorschriften wahrlich nicht mehr gar
so genau zu nehmen. Und je vollständiger Rolfs Ueber-
raschung war, desto gewisser glaubte sich Else ihres
Erfolges.
Sie sah, daß sein Erstaunen bei ihrem Anblick kein
freudiges war; aber nach den Mitteilungen ihrer Mutter
hatte sie es kaum anders erwarten dürfen, und die
Miene, mit der sie empfangen wurde, entmutigte sie
nicht.
„Sie sind verwundert, mich hier zu sehen," kam

sie seiner Anrede zuvor, „und ich weiß sehr wohl, wie
unvorsichtig mein Beginnen ist. Aber ich konnte nicht
anders. Ich mußte die Erklärung haben, die Sie mir
schuldig sind."
„Eine Erklärung für mein Ausbleiben vom heutigen
Vormittag?" sagte er, energisch gegen seine Befangen-
heit kämpfend. „Gewiß, Fräulein Flemming, Sie
haben vollen Anspruch auf meine Entschuldigungen.
Ich bedaure aufrichtig, daß eine dringende Abhaltung
mich verhinderte . . ."
Aber sie ließ ihn nicht ausreden.
„Wollen Sie eine Komödie mit mir spielen, Rolf?
Sagen Sie mir, was seit gestern geschehen ist, Ihren
Sinn zu ändern. Ich bin gefaßt, das Schlimmste zu
hören; aber ich erwarte, daß Sie wahr und aufrichtig
gegen mich sind."
„Wahr und aufrichtig? Waren Sie es denn bisher


Mäher. Nach dem Gemälde von B. Genzmer.

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yllustr. Weil. 1SV2. 24,
 
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