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Illustrierte Welt : vereinigt mit Buch für alle: ill. Familienzeitung — 50.1902

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Heft 24
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https://doi.org/10.11588/diglit.56970#0577
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lebhaften Bildern aus der Zukunft... wie er an der
Seite Danielas ein wohlhabender Geschäftsmann fein
würde, wie dann alles Elend ein Ende haben sollte...
und wie ihn sein junges Weib lieben würde... lieben
... so heiß und stürmisch ... es würde ja der Himmel
auf Erden sein!
Immer wirrer wurde die Flucht dieser sehnsüchtigen
Bilder. Der junge Arbeiter hatte seinen Kopf an das
Mauerwerk zurückgelehnt. Noch kurze Zeit bemühte
er sich, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Dann
sank ihm das Haupt schwer aus die Brust. Der Schlaf
hatte ihn überwältigt.
Ein unruhiger Schlaf; denn oft fuhr er empor,
sprach abgerissene Sätze oder gestikulierte heftig mit
den Händen. Der Traumgott trieb sein Spiel mit
ihm. Zuletzt sah er die schöne Daniela, wie sie voll
Leidenschaft den feurigen Saltarello tanzte. Ihr auf-
gelöstes rotes Haar flog wie ein Königsmantel um sie.
Um ihren schlanken Leib trug sie ein weites, nieder-
fließendes Kleid aus lauter roten Scheinen, wie sie
heute Alessandro an der Kasse erblickt hatte . . . Und
dieses Kleid rauschte und raschelte und knisterte, daß
der arme Alessandro nur stumm all diese Pracht an-
staunen mußte. . . Dazu spielte der alte Peppo die
Harmonika. . . immer rascher. . . immer wilder . . .
Und jetzt trat Sor Tomaso, sein Arbeitgeber, auf ihn
zu, klopfte ihm auf die Schulter und wünschte ihm
Glück... Er hörte ganz deutlich seine Stimme.
Der junge Bursche fuhr aus dem Schlaf empor.
Es hatte ihn thatsächlich jemand heftig an der Schulter
gerüttelt.
„He da! Was hast du hier zu suchen?" schrie ihn
Sor Tomaso an.
Alessandro sprang auf die Füße, rieb sich die
Augen. Es war kein Traum mehr. Der Fabrikant
stand aus der mondbeleuchteten Straße leibhaftig vor ihm.
„Was du hier zu suchen hast?" rief der kleine,
dicke Mann zu dem Burschen empor, der ihn mindestens
um Haupteslänge überragte. Alessandro fuhr sich mit
der Hand über die Stirn, als wenn er erst langsam
zum Bewußtsein kommen müßte.
„Verzeihen Sie, Sor Tomaso!" würgte er endlich
zaghaft hervor. „Ich habe hier auf Sie gewartet."
„Auf mich gewartet?" Der Fabrikherr maß sein
Gegenüber mit einem mißtrauischen Blick. Er erkannte
jetzt den Arbeiter, mit dem er heute auf der Sparkasse
zusammengetroffen war. Unwillkürlich fühlte er mit
einer ängstlichen Bewegung nach seiner Brusttasche.
„Was hast du auf mich zu warten?" herrschte er
Alessandro an, indem er sich Mühe gab, seiner Stimme
einen entschlossenen Ton zu verleihen.
„Ich wollte Sie inständig um etwas bitten, Sor
Tomaso!" faßte sich der Bursche ein Herz.
„Das ist keine Zeit dafür!" rief der Fabrikant
und wollte mit eiligen Schritten an Alessandro vorüber.
Dieser vertrat ihm den Weg.
„Was soll das? Platz da!" rief der Fabrikherr,
indem er feinen Stock erhob.
„Hören Sie mich an! Ich bitte Sie darum! Bei
der Madonna und allen Heiligen!" flehte Alessandro.
Dann stotterte er. in hastigen, abgebrochenen Sätzen
sein Anliegen hervor.
Zuerst verstand ihn Sor Tomaso offenbar nicht.
Dann schien ihm die Sache plötzlich klar zu werden.
Er brach in ein lautes Gelächter aus.
„Du bist wohl verrückt oder betrunken!" rief er.
„Pack dich, oder ich rufe nach Leuten!"
Da stürzte der junge Bursche vor ihm nieder,
mitten in den Straßenstaub, und umschlang. seine
Kniee. .. krampfhaft, als . wenn er den Stamm eines
Baumes umklammerte, aus dessen Zweigen er reife
Früchte schütteln wollte.
„Nicht verrückt, nicht betrunken, Sor Tomaso!"
rang es sich mit unterdrücktem Schluchzen aus seiner
Kehle. „Ein armer, elender Mensch bin ich! Und
Daniela heiratet einen andern, wenn Sie mir nicht
helfen, Sor Tomaso! Sie, Sie allein können mich
retten! Und nur fünf . . . hören Sie. . . nur fünf...
fünf rote Scheine für das Glück zweier Menschen! . . .
Nicht geschenkt ... ich will es ja nicht geschenkt! Leihen,
nur leihen! Ich zahle Ihnen Prozente. . . zehn . . .
zwanzig . . . soviel Sie wollen!" Dabei rüttelte er
an den Knieen des Fabrikhcrrn, daß dieser jedenfalls
zu Boden gestürzt wäre, wenn der Flehende ihn nicht
rvie mit eisernen Klammern umfaßt gehalten hätte.
„Los laß, sag' ich! Los laß!" schrie Sor Tomaso.
„Ein Schurke bist du! Ausrauben willst du mich!"
„Sie müssen mir helfen! Sie müssen!" keuchte
Alessandro.
Da hob der Fabrikherr seinen Stock zum Schlage
und ließ den metallenen Knopf auf den vor ihm
Änieenden niedersansen. Der Hut des jungen Arbeiters
flog auf die Straße. Nur um so fester umklammerte
er trotzdem Sor Tomaso.
„Hilfe! Zu Hilfe!" schrie dieser und schlug von
neuem zu. „Hund! Ich will dich lehren!"
Ein Schlag nach dem ändern sauste auf den
Knieenden nieder. Alessandro fühlte, wie ihm das

Illustrierte Welt.

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warme Blut über Stirn und Wangen lief. Das brachte
ihn zur Besinnung seiner Lage.
Er ließ den Fabrikanten plötzlich los und sprang
empor. Sor Tomaso taumelte zurück und wäre fast j
zu Boden gestürzt. Er raffte sich jedoch noch recht- j
zeitig auf, sprang gegen den Burschen und schlug
ihm noch einmal mit voller Wucht den Stock ins
Gesicht.
„Zu Hilfe gegen den Hund!" schrie er.
Ein rasender Zorn erfaßte Alessandro, der vor
Schmerz taumelnd seine Zähne auseinander biß.
„Selbst Hund!" knirschte er, halb besinnungslos
von den Schlägen, die ihn getroffen hatten, riß mit !
einem jähen Ruck sein Messer aus dem Sack und stieß !
es Sor Tomaso in die Brust.
„Naleästto!" kam es mit einem gurgelnden Schrei
von den Lippen des Fabrikanten.
Gleich darauf ein dumpfer Fall. Ein paar Zuckungen
des Getroffenen im Staub der Straße. Ein letztes
Stöhnen, dann war alles still. Sor Tomaso rührte
sich nicht mehr.
Im ersten Augenblick nach seiner That hatte
Alessandro das Messer von sich geschlendert. Erst als
er den Körper des Toten auf der Straße liegen sah,
wurde er sich langsam darüber klar, was geschehen war.
Schritt für Schritt wankte er zurück und ließ sich
willenlos auf den Mauersockel nieder, wo ihn der Er-
mordete wenige Minuten früher aus dem Schlaf ge-
stört hatte.
Er starrte hinaus in die Nacht. Mit namenloser
Angst vermied er es, aus den Fleck gerade vor ihm
hinzusehen, wo fein Opfer lag. Und doch, wie von
einer unheimlichen Macht gezwungen, lenkten sich seine
Blicke immer wieder dorthin.
Endlich kam ihm der Gedanke, was Daniela dazu
sagen würde. Daniela ... ja, Daniela . . . Jetzt erst
erinnerte er sich an das Mädchen . . . Wie war das
alles nur gekommen? Was hatte er von Sor Tomaso
gewollt? ... Er mußte erst wieder denken lernen.
Ja, ja, gebeten hatte er Sor Tomaso, kniefällig
gebeten um das Darlehen. Ganz richtig. Fünf. . .
nur fünf rote Scheine. . . Und dort. . . dort . . . nur
ein paar Schritte vor ihm lag der reiche Fabrikherr.
Jetzt konnte er ihm nichts mehr gewahren und nichts
mehr abschlagen.
Alessandro erhob sich. Er spähte schen die Straße
hinunter und herauf. Dann trat er mit leisen Schritten,
schleichend wie eine Katze, durch das Portal.
Kein Mensch war da. Niemand hatte es gesehen.
Und Daniela, die schöne Daniela, was würde sie
sagen, wenn er morgen zn ihr käme mit Geld . . . viel
Geld . . . Viel mehr Geld, als er jemals zu hoffen ge-
wagt hatte. .
Das Blut rieselte ihm noch immer über sein Gesicht.
Jetzt spürte er es wieder . . . Der da. . . der da . . .
er hatte ihn geschlagen! Nun lag er da draußen ganz
still und stumm.
Der würde ihn nie mehr schlagen! Und Daniela,
wenn er morgen käme nut viel Geld, die würde keinen
andern heiraten als ihn.
Niemand hatte es gesehen, kein Mensch.
Die alten Mauern und die Bäume und die Straße
und der Mond hoch droben, die konnten nichts erzählen
. . . Der Mann dort . . . vielleicht trug er noch das
Buch mit den roten Blättern auf der Brust!
Geschwind, ehe jemand kam. . . Alessandro schlich
an den Toten heran, kniete vor ihm nieder und tastete
mit fiebernder Hand an seinem Nock.
Da, da war es. Er fuhr ihm in die Tasche. Jetzt
hatte er es in der Hand... die gleiche Brieftasche,
die er heute sah!
Er sprang auf und öffnete die Brieftasche. . .
Alles fein!
Mit raschem Griff zog er die Banknoten heraus
und warf die Tasche weit ins Feld. Nun hielt er es
in Händen . . . nicht fünf. . . mehr, viel mehr!
Mit zitternder Gier begann er zu blättern, zu
zählen. Alles sein... das ganze rote Buch! Und
Daniela!
Aber jetzt nur fort, fort! Kein Mensch sollte ihn
sehen. Er warf noch einen entsetzten Blick auf den
Toten und schaute dann unwillkürlich nach der Wölbung
des alten Thorbogens.
Alessandro zuckte zusammen, als ob ihn der Blitz
getroffen hätte. Ein halb erstickter heiserer Schrei kam
aus seiner Kehle. Es war ihm, als wenn sein Herz
plötzlich stillftehen und das Blut in seinen Adern er-
starren würde. Kalter Schweiß trat ihm auf die
Stirn, und er zitterte am ganzen Leib wie bewegliche
Halme im Wind.
Da droben... ja, da droben! Von da droben
schaute es auf ihn hernieder ... ein riesiges Auge. . .
zum Leben erwacht... in flammender Glut, zürnend
und strafend . . . Allmächtig bezwingend, vorwurfsvoll
und mit unsäglicher Trauer . . . durch seinen Blick ihn
an die Stelle bannend, wo er stand . . . das Ange der
Dreifaltigkeit. . . das Auge Gottes, das im Ver-
borgenen sieht, dem nichts ein Geheimnis bleibt!

Schaudernd wollte sich Alessandro bekreuzigen. Er
vermochte es nicht.
In den geballten Fäusten hielt er die Banknoten
und konnte die Hände nicht mehr von dem Buch mit
den roten Blättern losbringen. Er wollte beten. . .
„Vater unser, der du bist in dem Himmel .. ."
Die Worte kamen nicht über seine Lippen. Ganz
andre Worte, als er sie aussprechen wollte . . . fünf...
fünf... nur fünf rote Scheine. . . sprach er immer-
fort. statt des Gebetes.
Unverwandt schaute das Auge auf ihn und grub
ihm seine Flaminen tief in die Seele. . . „Du sollst
nicht töten!"
Der Wind hatte sich mit stärkerer Gewalt erhoben
und schüttelte die Kronen der Pinien. Alessandro war
es, als ob sich ihm aus den dunkeln Aesten drohende
Fäuste und nach ihm langende Arme entgegenreckten,
als ob aus dem ächzenden Gezweig dumpfe Stimmen
grollten und raunten . . . „Mörder! Mörder!"
Dabei blieben seine Blicke an das zürnende Riesen-
auge gefesselt. . . . „Herr erbarme dich meiner!" wollte
er flehen. Abermals entflohen ihm die Worte: „Fünf
. . . nur fünf..."
Mit bebenden Armen hob er die Banknoten empor.
Er wollte die Hände falten. Unmöglich. Das Buch
zwischen ihnen hielt sie getrennt wie eine starre Fessel.
Und droben die Flammen des göttlichen Zornes
in deni allsehenden Auge des Allmächtigen. In der
Seele des Mörders aber erstanden die Worte von
neuem: „Du sollst nicht töten!" Und der Zusatz: „Ich
bin ein gerechter Richter!"
Eine wahnsinnige Angst bemächtigte sich des Un-
seligen. Wenn sie jetzt kämen und ihn hier träfen mit
dem Raub in seinen Händen... Fort! Er mußte
fort, ehe es Tag wurde!
Er wollte sich zur Flucht wenden. Seine Füße
waren wie in den Boden gewurzelt. Er vermochte
keinen Schritt zu thun, keine Muskel zu rühren . . .
Nur immer starrer sah er empor zu dem strafenden
Auge seines ewigen Richters.
Der Mond war untergegangen. Der unendliche
Sternenhimmel wölbte sich über dem Haupt des Mörders.
Vor ihm leuchtete flammender und mächtiger denn alle
Sonnen der Welt das Auge der Dreifaltigkeit.
Leise begannen die ersten Schimmer der Morgen-
dämmerung sich zu zeigen. Die Sterne verblaßten
mehr und mehr. Es wurde lichter und lichter.
Nur noch kurze Frist. Bald mußte es an den
Tag kommen.
„Fliehen! Fliehen!" schrie es verzweifelt in dem
Mörder. Konnten die Mauern etwa fliehen. . . oder
die fest im Erdboden wurzelnden Bäume?
Der Tag brach an. Die Morgenröte warf ihr
leuchtendes Netz über die weite Campagna.
Bei den ersten Sonnenstrahlen fanden sie Alessandro
neben dem Toten.
Er hielt noch immer seinen Raub zwischen den
Fäusten.
Ohne Widerstand ließ er sich fesseln.

Parade vor dem italienischen Königspaar in Neapel.
Mild S. SS8 u. SS9.)
Die großen Truppen- oder Heerschauen, die den Namen
Paraden führen, bieten im allgemeinen in den europäischen
Armeen immer das gleiche Schauspiel. Der die Parade
abnehmende Vorgesetzte reitet die Front der unter präsen-
tiertem Gewehr in Paradeaufstellung stehenden Truppen ab
und läßt sie dann unter klingendem Spiel an sich im Parade-
marsch vorbeidefilieren. Dabei treten im einzelnen aber
doch große Verschiedenheiten zu Tage, je nach Art der Aus-
bildung der Truppen, ihrer Ausrüstung und Bewaffnung,
die dem Sachverständigen viel zu beobachten und zu denken
geben. Schon der äußere Rahmen trägt viel dazu bei,
und so gewähren z. B. eine Parade auf dem Tempelhofer
Felde bei Berlin und eine solche auf dem Paradeplatz der
Pariser Garnison, dem Hippodrome de Longchamp, ein
durchaus voneinander abweichendes Bild, in der die natio-
nalen Verschiedenheiten, die Unterschiede des Menschen-
materials wie des „Drills" deutlich sich gewahren lassen.
Ein prachtvolles Paradefeld hat die Garnison von Neapel
am Gestade des herrlichen Golfes mit dem Vesuv im
Hintergründe. Dorthin versetzt uns das Bild auf Seite 568
und 569, das uns einer Parade vor dem italienischen
Königspaar auf jenem klassischen Boden beiwohnen läßt.
Die Truppen defilieren vor ihrem obersten Kriegsherrn,
dem König Viktor Emanuel III., der mit seiner Suite
unmittelbar vor dem Wagen seiner Gemahlin, der Königin
Helene, Aufstellung genommen hat. Der junge König, dessen
militärischer Erzieher, Oberst Egidio Osio, der frühere
Militärattache der italienischen Botschaft in Berlin, ge-
wesen ist, widmet sich neben seinen wissenschaftlichen Lieb-
habereien mit größtem Eifer dem Heerwesen und ist mit Leib
und Seele Soldat. Nach Neapel wurde er als Kronprinz
am 2. November 1890 mit seiner Ernennung zum Oberst
und Kommandeur des 1. Infanterieregiments versetzt; dort
hat er dann vier Jahre lang seinen Hof gehalten, bis er
1894 zum Generalleutnant befördert wurde und das Kom-
mando der in Florenz liegenden Division erhielt.
 
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