plötzlich wie weggewischt. Sie hörte den Matrosen schwer
atmen, als er sich niederbeugte und durch das Schlüssel-
loch lugte. Der Schlüssel wurde kälter in ihrer Hand.
„Nein, es steckt kein Schlüssel drin. Bill."
„Das ist recht. Dann liegen sie beide in ihren
Betten, und der Halunke, der uns entwischte, ist nicht
vor uns hier angelangt. Wenn er jetzt noch kommt,
dann helfe ihm Gott!"
Es waren die Stimmen Bills und des Seemanns.
Für den Augenblick schienen die beiden allein zu sein.
„Ja, ja, diesmal werden wir den Gauner schnell
genug aufhängen!"
„Ihn aufhängen? An den Fersen soll er baumeln,
und Löcher schießen wir durch ihn, bis er krepiert!"
„Und wo es nicht gleich tötet, da fangen wir an.
Ich wollte nur, er käme jetzt zum Vorschein."
„Der Hund! Aber hier kommt der Ningläuser.
Wie steht's, Kamerad?"
„Alles in Ordnung," sagte Simons. „Das kleine
Teufelsweib hat ihre Thür zugeschlossen. Die Stiefel
stehen davor, gerade als ob sie in einem friedlichen
Hotel übernachtete. Offenbar ist es ihr ganz schnuppe
gewesen, ob ihr feiner Schatz im Busch verirrt sei oder
nicht! Wir glaubten, du hättest uns angelogen, Mutter,
aber sackerlot, du sprachst die Wahrheit!"
„Natürlich sprach ich die Wahrheit!" sagte eine
vierte Stimme. „Sie wollte nicht glauben, daß er sich
verirrt hätte, aber ich wußte es. Deshalb sattelte ich
das Nachtpferd, nachdem sie zu Bett gegangen und
eingeschlafen war, und wollte nach den Hütten reiten,
um einen Trupp Leute aufzubieten, die ihn suchen sollten."
Die beiden drinnen starrten sich in stummem Ent-
setzen an. Die vierte Person, die gesprochen hatte,
war ihnen nur zu wohlbekannt. Es war die arme
Mrs. Potter!
Fünfzehntes Kapitel.
Der nächtliche Angriff.
„Nun hör zu, Mutter!" sagte Bill. „Noch ein
paar Dinge wünschen wir zu wissen. Rücke mit der
Wahrheit heraus, und alles ist in Ordnung. Sagst
du uns eine Lüge, und es ist zu Ende mit dir. Ver-
standen?"
„Ich dächte, ja."
„Thust auch recht daran. Also höre: Was weißt
du von dem Schlüssel?"
„Sie hat ihn in ihrem Zimmer."
„Unter ihrem Kopfkissen, wie?"
„Das kann ich nicht behaupten; aber sie wird es
euch schon sagen."
„Davon sind wir überzeugt. Jetzt höre: Kannst
du einen Eid schwören, daß außer dir und ihr keine
andre Seele auf dem Gehöft ist?"
Die beiden drinnen hielten den Atem an. Sie
mußten ja schließlich entdeckt werden; je länger sie es
jedoch hinausschieben konnten, desto besser war es.
Mrs. Potter hatte Herz und Mund auf dem rechten Fleck.
„Ich fchwöre es!" rief sie mit lauter Stimme.
„Was macht dich denn so verdammt sicher?"
„Ei, das ist doch ganz begreiflich. Von Rechts
wegen sollten wir unsrer vier in der Farm sein. Näm-
lich Miß Naomi und ich mit Sam Rowntree und
Mr. Engelhardt. Sam ist auf eigne Faust davon-
gegangen" — Bill lachte in sich hinein —, „niemand
weiß wohin. Mr. Engelhardt hat sich verirrt, wie ich
schon sagte. Es bleibt also niemand übrig, außer der
Herrin und mir. Wie könnte es anders sein?"
„Ich weiß nicht und bekümmere mich auch verflucht
wenig darum, wie es anders sein könnte. Ich weiß
nur, daß, wenn es anders ist, du eine Pille zu schlucken
bekommst, zu der du nicht den Mund zu öffnen brauchst.
Und was den Kerl anbetrifft, der sich verirrt hat,
kannst du einen Eid leisten, daß er nicht auf der Bild-
fläche erschienen ist, ehe du die Farm verließest?"
„Das sagte ich euch ja schon, als ihr mich mit den
Pferden einholtet."
„Du mußt es aber beschwören!" beharrte Bill.
„Ich habe es beschworen."
„Ja, sie hat recht," fiel Simons ein, der während
dieses Kreuzverhörs offenkundig gemurrt hatte. „Was
soll das nützen, noch einmal denselben Weg abzuklopfen?
Ist es nicht besser, sie giebt uns jetzt das versprochene
Essen, und wir machen uns dann an die Arbeit."
„Ja, das sage ich auch!" rief der Matrose.
„In fünf Minuten sollt ihr euer Essen haben,"
sagte Mrs. Potter, „wenn ihr mir erlaubt, es zu holen."
„Gut, Mistreß," sagte Bill nach einer Pause. „Aber
merke dir, wenn du uns einen Streich zu spielen ver-
suchst, so drehe ich dir bei Gott den Kragen um, bis
dein Gesicht da ist, wo dein Haar sein sollte. Wage
es nur nicht, uns einen Strich durch die Rechnung zu
machen, sonst giebt es einen Krach! Kommt, Jungens.
Du zeigst uns den Weg nach dem Eßzimmer, Mutter,
und steckst uns das Licht an. Dann wollen wir —"
Das übrige drang nur undeutlich in das Lager-
haus. An Stelle des leisen Knirschens der Fußtritte
in dem sandigen Hofe trat ein tönendes Klappern auf
der Veranda des Wohnhauses. Naomi hatte auf jenes
Illustrierte Welt.
Zeichen gewartet. Mit weißem Gesicht und hastigen
Händen fing sie an, Pflock auf Pflock die Barrikade,
von der ihr ganzes Leben abhing, herunterzureißen.
„Sie, gerade sie soll nicht darunter leiden," murmelte
Naomi. „Wenigstens soll sie nicht allein leiden."
„Sie wollen die Thür öffnen?"
„Ja, und sie einlassen, wenn sie vorüberqeht. Um
zur Küche zu gelangen, muß sie dicht an dem Lager-
haus vorbei. Wir wollen die Thür aufmachen, und
wenn sie klug ist, geht sie erst ein paarmal vorüber,
ohne den Kops zu wenden. Sie wartet, bis die Kerle
ordentlich bei der Arbeit sind, dann kommt sie zurück,
um noch etwas zu holen, und schlüpft rasch und un-
bemerkt herein."
Während Naomi diese Worte sprach, ging sie nach
hinten zu dem Flintenständer, nahm ein Winchester-
Repetiergewehr, lud es und kehrte damit zu Engelhardt
zurück. Diesen wies sie an, die Thür aufzuschließen,
wobei sie ihm hals, leise mit dem Schlüssel zu ver-
fahren. Langsam wurde das Schloß zurückgedreht.
Einen Augenblick später war die Thür weit offen, und
Naomi stand in ihrem Rahmen, das Winchestergewehr
in der Hand.
Der große Farmhof war von dem klaren Mond-
licht überflutet. Der Brunnenzaun in der Mitte und
die Baracken auf der gegenüberliegenden Seite schienen
ganz frisch weiß angestrichen zu sein. Das Haupt-
gebäude konnte Naomi nicht sehen, ohne den Kopf
hervorzustrecken, da sie sich innerhalb des Thürrahmens
hielt. Aber der Nachtwind, der ihr frisch in das An-
gesicht blies, trug ihr den Lärm von fluchenden Stimmen
und lautem Lachen aus dem Eßzimmer zu. Es währte
nicht lange, so hörte sie Schritte. Naomi legte einen
Finger an den Gewehrdrücker. Sie stand wie ein
Fels; Engelhardt wie ein Schatten an ihrer Seite.
Es war Airs. Potter, die in das Mondlicht heraus-
trat. Soweit ging alles, wie Naomi gehofft und be-
rechnet hatte.
Dann kam jedoch etwas Unvorhergesehenes. Als
die arme, zu Tode geängstigte Frau die Thür des
Lagerhauses plötzlich offen stehen sah, blieb sie wie an-
gewurzelt stehen, zögerte eine halbe Sekunde und lief
dann wie ein verfolgtes Wild daraus los. Vergebens
machte Naomi abwehrende Zeichen. Sie mußte bei-
seite treten, um die Flüchtende hereinzulassen, auch
hatte sie gerade noch Zeit, Engelhardt zu verhindern,
die Thür laut zuzuschlagen. Sie schloß diese lautlos,
drehte dann den Schlüssel mit derselben Sorgfalt
wie vorher um, und mit einem scharf geflüsterten „st!"
blieb sie stehen, um zu lauschen. Die beiden andern
verhielten sich ebenso schweigend wie Naomi, wenn auch
Mrs. Potter jetzt, da sie sich in Sicherheit fühlte, nach
Atem rang und am ganzen Körper zitterte. Die
Thränen stürzten ihr wie Bäche aus den Augen, und
sie wankte bedenklich hin und her. Dennoch hielt sie
sich in dieser kritischen Minute tapfer auf den Füßen.
Es war ein kurzer Zeitraum. Gleich daraus offenbarte
ihnen ein dröhnendes Gelächter aus der Ferne, daß
der Zwischenfall Ivie durch ein Wunder unbemerkt und
ungeahnt vorübergegangen war.
„Wir können von Glück sagen," begann Naomi
streng. Im nächsten Augenblick aber hatte sie die Arme
um den Hals der alten Frau geschlungen und bedeckte ihr
ehrliches, runzliges Gesicht mit Thränen und Küssen.
Der Praktische Engelhardt war unterdes eifrig be-
schäftigt, die Pflöcke von neuem wider die Thür zu
stemmen. Da er nur die eine Hand dabei gebrauchen
konnte, ging ihm die Arbeit nur langsam von statten.
Bald war Naomi wieder so weit zu sich gekommen,
daß sie ihm helfen konnte. Außerdem hatten sie jetzt
die kräftige Mrs. Potter, die ihnen ihr Gewicht leihen
konnte. Die Stützen waren bald fester wie zuvor.
Nagelbohrer und Klammern wurden über denen, die
am schrägsten waren und so am meisten Gefahr liefen,
umgeworsen zu werden, in die Thür getrieben. Dann
kam eine Minute, in der sie Atem schöpfen konnten,
und die Engelhardt auf Naomis gebieterische Weisung
dazu benutzen mußte, sich an den von ihr mitgebrachten
Vorräten zu stärken und zu laben.
„Ich war gerade durch das erste Thor gekommen,"
flüsterte inzwischen Airs. Potter ihrer jungen Herrin
zu, „als ich hinter mir galoppieren hörte, und da
waren sie auch schon! Nein, Miß Naomi, ich habe
keine Ursache, stolz zu sein. Ich sagte das erste beste,
was mir in den Sinn kam, ich hatte keine Zeit zum
Denken. Es ist nur ein Glück, daß es so gut aus-
gefallen ist."
„Es war Geistesgegenwart," sagte Naomi. „Wir
haben eine ziemliche Frist dadurch gewonnen und viel-
leicht sogar noch längere Zeit, wenn Sie nicht vermißt
werden. Wenn wir uns bis zum Morgen halten
können, kommt vielleicht einer von den Hütten hierher
geritten. Hört man sie nicht immer noch schwätzen?"
„Ja, sie sind geduldiger, als ich glaubte."
„Die Kerle vermuten Sie in der Küche. Wenn
sie dahinterkommen, daß dem nicht so ist, dann werden
sie ihre Zeit damit verschwenden. Sie zu suchen —
überall, nur nicht hier."
647
„Ja, aber schließlich werden sie doch hierherkommen,
und dann möge der Herr unfern Seelen gnädig sein!"
„Ach was, so leicht kommen sie nun doch nicht
hier herein. Und wenn, dann habe ich noch meinen
Winchester —"
„Still!" mahnte Engelhardt. Er kniete zwischen
den Pfählen, und sein Ohr lag dicht unten an der Thür.
Alle drei lauschten. Die Stimmen draußen wurden
lauter und deutlicher. Die Männer waren aus dem
Haus getreten.
„Ich glaube, sie ist überhaupt nicht dort," sagte
einer. „Ich sehe kein Licht."
„Geh und schau nach, Bo'fin. Stachele das alte
Weibsbild mit der Spitze deines Messers auf. Wenn
sie sich aber zu verstecken sucht oder derlei Dummheiten
treibt, dann mache dem Kram ein Ende und schneide
ihr die Gurgel ab!"
„Sackerlot, Bill hat recht!"
„Nun. nun, Kameraden, wir wollen sehen, wir
wollen sehen!"
Die Stimmen waren näher gekommen. Naomi hatte
Mrs. Potters Hand ergriffen und preßte sie heftig.
Einige Augenblicke konnten sie nichts verstehen. Der
Matrose war offenbar nach der Küche hinübergegangen.
Die andern zwei sprachen in der Nähe des Brunnen-
zauns leise miteinander. Ein gedämpfter Ruf von
der Küche drang an ihre Ohren.
„Sie ist überhaupt nicht da!"
„Nicht da?"
„Kommt und seht selbst."
„Himmelsternsapperment!" schrre Bill. „Wehe ihr,
wenn ich sie an ihrem feisten Kragen habe!"
Einen Augenblick später hörte man, wie die drei
suchend in der Küche umherpolterten, der Flüchtigen
zuriefen, hervorzukommcn, und dabei Verwünschungen
ausstießen, die höchst schauerlich in der Ferne anzu-
hören waren. Als die Kerle aber näher kamen, indem
sie, wie Frettchen einen Kaninchenbau, ein Nebengebäude
nach dem andern hastig durchsuchten, erreichte die Roheit
ihrer Sprache einen solchen Gipfel, daß die geängstigte
Mrs. Potter im Lagerhaus zitternd und fast bewußtlos
aus die Theke sank. Im Handumdrehen hatte Naomi
die Flasche bereit. Ihre eigne kühle Hand und ihr
fester Blick waren nicht weniger nützlich als der Brannt-
wein, und der Anfall ging ebenso schnell vorüber, als
er gekommen war. Inzwischen hatte Engelhardt die
Vorgänge da draußen mit der gespanntesten Aufmerk-
samkeit verfolgt; er hatte sich noch nicht von den Knieen
erhoben. Erst als Mrs. Potter, gestützt von Naomi,
wieder ausrecht stand, richtete er sich ein wenig empor
und flüsterte:
„Es ist alles in schönster Ordnung. Die Kerle
haben keine Ahnung, wo Sie sind. Simons hat in
den Baracken nachgeschaut, und der Matrose unter den
Fichten. Schließlich haben sie die Nachforschungen ein-
gestellt. Keine fünf Ellen von uns entfernt halten
sie eben einen Kriegsrat!"
„Laßt uns hören," sagte Naomi. „Worte können
uns nicht töten." (Schluß folgt.)
Der Kinderschirm.
Mütterlein, siebst du das Schirmchen nicht dort —
sMAt V bleibe doch stehen, o geh doch nicht fort —
Im Fenster, wo wagen und Püppchen stehn?
Doch wagen und Püppchen nicht halb so schön!
Ans rotem Kattun mit Vöglein drauf
Und mit einer Schleife und goldenem Knauf!
Prinzessin Schönchen im Mondlichtrevier
Hat keinen schönren. — <D kaufe ihn nur!"
Die Mutter schüttelt den Kopf ganz stumm;
Sie sieht sich kaum nach dem Fenster um,
Zieht mit sich fort ihr bittendes Kind.
Auf bleicher Wang' eine Thräne rinnt.
„V Mütterchen, sei gut, sei nett!
D sieh einmal, wenn ich das Schirmchen hält',
Ich wünschte mir nichts mehr, so glücklich wär' ich;
Prinzessin Schönchen dünkte ich mich.
Und wollte auch immer ganz artig sein,
Und bin doch dein liebes Töchterlein?
Und bist mir doch gut, o Mutti, ja? —
So geh und kauf inir das Schirmchen da."
wie hält die Mutter das Händchen so sest,
wie sind ihre kippen zusammengexreßt!
weit in die Ferne das Auge starrt.
Dann aber sagt sie kurz und hart:
„Ich habe kein Geld." — Und mit hastigem Schritt
In einen Bäckerladen sie tritt.
Dort kauft sie ein ein kleines Brot
Und giebt ein Geldstück blank und rot —
Ls ist ihr letztes — und wieder erhält
Die ganze Hand sie voll Silbergeld. —
Ls schaut das Kind mit Blicken so heiß,
So vorwurfsvoll. Dann sagt es leis:
„Mir wollt'st du nicht kaufen den Schirm zum Spiel
Und hast doch Geld — so furchtbar viel!"
atmen, als er sich niederbeugte und durch das Schlüssel-
loch lugte. Der Schlüssel wurde kälter in ihrer Hand.
„Nein, es steckt kein Schlüssel drin. Bill."
„Das ist recht. Dann liegen sie beide in ihren
Betten, und der Halunke, der uns entwischte, ist nicht
vor uns hier angelangt. Wenn er jetzt noch kommt,
dann helfe ihm Gott!"
Es waren die Stimmen Bills und des Seemanns.
Für den Augenblick schienen die beiden allein zu sein.
„Ja, ja, diesmal werden wir den Gauner schnell
genug aufhängen!"
„Ihn aufhängen? An den Fersen soll er baumeln,
und Löcher schießen wir durch ihn, bis er krepiert!"
„Und wo es nicht gleich tötet, da fangen wir an.
Ich wollte nur, er käme jetzt zum Vorschein."
„Der Hund! Aber hier kommt der Ningläuser.
Wie steht's, Kamerad?"
„Alles in Ordnung," sagte Simons. „Das kleine
Teufelsweib hat ihre Thür zugeschlossen. Die Stiefel
stehen davor, gerade als ob sie in einem friedlichen
Hotel übernachtete. Offenbar ist es ihr ganz schnuppe
gewesen, ob ihr feiner Schatz im Busch verirrt sei oder
nicht! Wir glaubten, du hättest uns angelogen, Mutter,
aber sackerlot, du sprachst die Wahrheit!"
„Natürlich sprach ich die Wahrheit!" sagte eine
vierte Stimme. „Sie wollte nicht glauben, daß er sich
verirrt hätte, aber ich wußte es. Deshalb sattelte ich
das Nachtpferd, nachdem sie zu Bett gegangen und
eingeschlafen war, und wollte nach den Hütten reiten,
um einen Trupp Leute aufzubieten, die ihn suchen sollten."
Die beiden drinnen starrten sich in stummem Ent-
setzen an. Die vierte Person, die gesprochen hatte,
war ihnen nur zu wohlbekannt. Es war die arme
Mrs. Potter!
Fünfzehntes Kapitel.
Der nächtliche Angriff.
„Nun hör zu, Mutter!" sagte Bill. „Noch ein
paar Dinge wünschen wir zu wissen. Rücke mit der
Wahrheit heraus, und alles ist in Ordnung. Sagst
du uns eine Lüge, und es ist zu Ende mit dir. Ver-
standen?"
„Ich dächte, ja."
„Thust auch recht daran. Also höre: Was weißt
du von dem Schlüssel?"
„Sie hat ihn in ihrem Zimmer."
„Unter ihrem Kopfkissen, wie?"
„Das kann ich nicht behaupten; aber sie wird es
euch schon sagen."
„Davon sind wir überzeugt. Jetzt höre: Kannst
du einen Eid schwören, daß außer dir und ihr keine
andre Seele auf dem Gehöft ist?"
Die beiden drinnen hielten den Atem an. Sie
mußten ja schließlich entdeckt werden; je länger sie es
jedoch hinausschieben konnten, desto besser war es.
Mrs. Potter hatte Herz und Mund auf dem rechten Fleck.
„Ich fchwöre es!" rief sie mit lauter Stimme.
„Was macht dich denn so verdammt sicher?"
„Ei, das ist doch ganz begreiflich. Von Rechts
wegen sollten wir unsrer vier in der Farm sein. Näm-
lich Miß Naomi und ich mit Sam Rowntree und
Mr. Engelhardt. Sam ist auf eigne Faust davon-
gegangen" — Bill lachte in sich hinein —, „niemand
weiß wohin. Mr. Engelhardt hat sich verirrt, wie ich
schon sagte. Es bleibt also niemand übrig, außer der
Herrin und mir. Wie könnte es anders sein?"
„Ich weiß nicht und bekümmere mich auch verflucht
wenig darum, wie es anders sein könnte. Ich weiß
nur, daß, wenn es anders ist, du eine Pille zu schlucken
bekommst, zu der du nicht den Mund zu öffnen brauchst.
Und was den Kerl anbetrifft, der sich verirrt hat,
kannst du einen Eid leisten, daß er nicht auf der Bild-
fläche erschienen ist, ehe du die Farm verließest?"
„Das sagte ich euch ja schon, als ihr mich mit den
Pferden einholtet."
„Du mußt es aber beschwören!" beharrte Bill.
„Ich habe es beschworen."
„Ja, sie hat recht," fiel Simons ein, der während
dieses Kreuzverhörs offenkundig gemurrt hatte. „Was
soll das nützen, noch einmal denselben Weg abzuklopfen?
Ist es nicht besser, sie giebt uns jetzt das versprochene
Essen, und wir machen uns dann an die Arbeit."
„Ja, das sage ich auch!" rief der Matrose.
„In fünf Minuten sollt ihr euer Essen haben,"
sagte Mrs. Potter, „wenn ihr mir erlaubt, es zu holen."
„Gut, Mistreß," sagte Bill nach einer Pause. „Aber
merke dir, wenn du uns einen Streich zu spielen ver-
suchst, so drehe ich dir bei Gott den Kragen um, bis
dein Gesicht da ist, wo dein Haar sein sollte. Wage
es nur nicht, uns einen Strich durch die Rechnung zu
machen, sonst giebt es einen Krach! Kommt, Jungens.
Du zeigst uns den Weg nach dem Eßzimmer, Mutter,
und steckst uns das Licht an. Dann wollen wir —"
Das übrige drang nur undeutlich in das Lager-
haus. An Stelle des leisen Knirschens der Fußtritte
in dem sandigen Hofe trat ein tönendes Klappern auf
der Veranda des Wohnhauses. Naomi hatte auf jenes
Illustrierte Welt.
Zeichen gewartet. Mit weißem Gesicht und hastigen
Händen fing sie an, Pflock auf Pflock die Barrikade,
von der ihr ganzes Leben abhing, herunterzureißen.
„Sie, gerade sie soll nicht darunter leiden," murmelte
Naomi. „Wenigstens soll sie nicht allein leiden."
„Sie wollen die Thür öffnen?"
„Ja, und sie einlassen, wenn sie vorüberqeht. Um
zur Küche zu gelangen, muß sie dicht an dem Lager-
haus vorbei. Wir wollen die Thür aufmachen, und
wenn sie klug ist, geht sie erst ein paarmal vorüber,
ohne den Kops zu wenden. Sie wartet, bis die Kerle
ordentlich bei der Arbeit sind, dann kommt sie zurück,
um noch etwas zu holen, und schlüpft rasch und un-
bemerkt herein."
Während Naomi diese Worte sprach, ging sie nach
hinten zu dem Flintenständer, nahm ein Winchester-
Repetiergewehr, lud es und kehrte damit zu Engelhardt
zurück. Diesen wies sie an, die Thür aufzuschließen,
wobei sie ihm hals, leise mit dem Schlüssel zu ver-
fahren. Langsam wurde das Schloß zurückgedreht.
Einen Augenblick später war die Thür weit offen, und
Naomi stand in ihrem Rahmen, das Winchestergewehr
in der Hand.
Der große Farmhof war von dem klaren Mond-
licht überflutet. Der Brunnenzaun in der Mitte und
die Baracken auf der gegenüberliegenden Seite schienen
ganz frisch weiß angestrichen zu sein. Das Haupt-
gebäude konnte Naomi nicht sehen, ohne den Kopf
hervorzustrecken, da sie sich innerhalb des Thürrahmens
hielt. Aber der Nachtwind, der ihr frisch in das An-
gesicht blies, trug ihr den Lärm von fluchenden Stimmen
und lautem Lachen aus dem Eßzimmer zu. Es währte
nicht lange, so hörte sie Schritte. Naomi legte einen
Finger an den Gewehrdrücker. Sie stand wie ein
Fels; Engelhardt wie ein Schatten an ihrer Seite.
Es war Airs. Potter, die in das Mondlicht heraus-
trat. Soweit ging alles, wie Naomi gehofft und be-
rechnet hatte.
Dann kam jedoch etwas Unvorhergesehenes. Als
die arme, zu Tode geängstigte Frau die Thür des
Lagerhauses plötzlich offen stehen sah, blieb sie wie an-
gewurzelt stehen, zögerte eine halbe Sekunde und lief
dann wie ein verfolgtes Wild daraus los. Vergebens
machte Naomi abwehrende Zeichen. Sie mußte bei-
seite treten, um die Flüchtende hereinzulassen, auch
hatte sie gerade noch Zeit, Engelhardt zu verhindern,
die Thür laut zuzuschlagen. Sie schloß diese lautlos,
drehte dann den Schlüssel mit derselben Sorgfalt
wie vorher um, und mit einem scharf geflüsterten „st!"
blieb sie stehen, um zu lauschen. Die beiden andern
verhielten sich ebenso schweigend wie Naomi, wenn auch
Mrs. Potter jetzt, da sie sich in Sicherheit fühlte, nach
Atem rang und am ganzen Körper zitterte. Die
Thränen stürzten ihr wie Bäche aus den Augen, und
sie wankte bedenklich hin und her. Dennoch hielt sie
sich in dieser kritischen Minute tapfer auf den Füßen.
Es war ein kurzer Zeitraum. Gleich daraus offenbarte
ihnen ein dröhnendes Gelächter aus der Ferne, daß
der Zwischenfall Ivie durch ein Wunder unbemerkt und
ungeahnt vorübergegangen war.
„Wir können von Glück sagen," begann Naomi
streng. Im nächsten Augenblick aber hatte sie die Arme
um den Hals der alten Frau geschlungen und bedeckte ihr
ehrliches, runzliges Gesicht mit Thränen und Küssen.
Der Praktische Engelhardt war unterdes eifrig be-
schäftigt, die Pflöcke von neuem wider die Thür zu
stemmen. Da er nur die eine Hand dabei gebrauchen
konnte, ging ihm die Arbeit nur langsam von statten.
Bald war Naomi wieder so weit zu sich gekommen,
daß sie ihm helfen konnte. Außerdem hatten sie jetzt
die kräftige Mrs. Potter, die ihnen ihr Gewicht leihen
konnte. Die Stützen waren bald fester wie zuvor.
Nagelbohrer und Klammern wurden über denen, die
am schrägsten waren und so am meisten Gefahr liefen,
umgeworsen zu werden, in die Thür getrieben. Dann
kam eine Minute, in der sie Atem schöpfen konnten,
und die Engelhardt auf Naomis gebieterische Weisung
dazu benutzen mußte, sich an den von ihr mitgebrachten
Vorräten zu stärken und zu laben.
„Ich war gerade durch das erste Thor gekommen,"
flüsterte inzwischen Airs. Potter ihrer jungen Herrin
zu, „als ich hinter mir galoppieren hörte, und da
waren sie auch schon! Nein, Miß Naomi, ich habe
keine Ursache, stolz zu sein. Ich sagte das erste beste,
was mir in den Sinn kam, ich hatte keine Zeit zum
Denken. Es ist nur ein Glück, daß es so gut aus-
gefallen ist."
„Es war Geistesgegenwart," sagte Naomi. „Wir
haben eine ziemliche Frist dadurch gewonnen und viel-
leicht sogar noch längere Zeit, wenn Sie nicht vermißt
werden. Wenn wir uns bis zum Morgen halten
können, kommt vielleicht einer von den Hütten hierher
geritten. Hört man sie nicht immer noch schwätzen?"
„Ja, sie sind geduldiger, als ich glaubte."
„Die Kerle vermuten Sie in der Küche. Wenn
sie dahinterkommen, daß dem nicht so ist, dann werden
sie ihre Zeit damit verschwenden. Sie zu suchen —
überall, nur nicht hier."
647
„Ja, aber schließlich werden sie doch hierherkommen,
und dann möge der Herr unfern Seelen gnädig sein!"
„Ach was, so leicht kommen sie nun doch nicht
hier herein. Und wenn, dann habe ich noch meinen
Winchester —"
„Still!" mahnte Engelhardt. Er kniete zwischen
den Pfählen, und sein Ohr lag dicht unten an der Thür.
Alle drei lauschten. Die Stimmen draußen wurden
lauter und deutlicher. Die Männer waren aus dem
Haus getreten.
„Ich glaube, sie ist überhaupt nicht dort," sagte
einer. „Ich sehe kein Licht."
„Geh und schau nach, Bo'fin. Stachele das alte
Weibsbild mit der Spitze deines Messers auf. Wenn
sie sich aber zu verstecken sucht oder derlei Dummheiten
treibt, dann mache dem Kram ein Ende und schneide
ihr die Gurgel ab!"
„Sackerlot, Bill hat recht!"
„Nun. nun, Kameraden, wir wollen sehen, wir
wollen sehen!"
Die Stimmen waren näher gekommen. Naomi hatte
Mrs. Potters Hand ergriffen und preßte sie heftig.
Einige Augenblicke konnten sie nichts verstehen. Der
Matrose war offenbar nach der Küche hinübergegangen.
Die andern zwei sprachen in der Nähe des Brunnen-
zauns leise miteinander. Ein gedämpfter Ruf von
der Küche drang an ihre Ohren.
„Sie ist überhaupt nicht da!"
„Nicht da?"
„Kommt und seht selbst."
„Himmelsternsapperment!" schrre Bill. „Wehe ihr,
wenn ich sie an ihrem feisten Kragen habe!"
Einen Augenblick später hörte man, wie die drei
suchend in der Küche umherpolterten, der Flüchtigen
zuriefen, hervorzukommcn, und dabei Verwünschungen
ausstießen, die höchst schauerlich in der Ferne anzu-
hören waren. Als die Kerle aber näher kamen, indem
sie, wie Frettchen einen Kaninchenbau, ein Nebengebäude
nach dem andern hastig durchsuchten, erreichte die Roheit
ihrer Sprache einen solchen Gipfel, daß die geängstigte
Mrs. Potter im Lagerhaus zitternd und fast bewußtlos
aus die Theke sank. Im Handumdrehen hatte Naomi
die Flasche bereit. Ihre eigne kühle Hand und ihr
fester Blick waren nicht weniger nützlich als der Brannt-
wein, und der Anfall ging ebenso schnell vorüber, als
er gekommen war. Inzwischen hatte Engelhardt die
Vorgänge da draußen mit der gespanntesten Aufmerk-
samkeit verfolgt; er hatte sich noch nicht von den Knieen
erhoben. Erst als Mrs. Potter, gestützt von Naomi,
wieder ausrecht stand, richtete er sich ein wenig empor
und flüsterte:
„Es ist alles in schönster Ordnung. Die Kerle
haben keine Ahnung, wo Sie sind. Simons hat in
den Baracken nachgeschaut, und der Matrose unter den
Fichten. Schließlich haben sie die Nachforschungen ein-
gestellt. Keine fünf Ellen von uns entfernt halten
sie eben einen Kriegsrat!"
„Laßt uns hören," sagte Naomi. „Worte können
uns nicht töten." (Schluß folgt.)
Der Kinderschirm.
Mütterlein, siebst du das Schirmchen nicht dort —
sMAt V bleibe doch stehen, o geh doch nicht fort —
Im Fenster, wo wagen und Püppchen stehn?
Doch wagen und Püppchen nicht halb so schön!
Ans rotem Kattun mit Vöglein drauf
Und mit einer Schleife und goldenem Knauf!
Prinzessin Schönchen im Mondlichtrevier
Hat keinen schönren. — <D kaufe ihn nur!"
Die Mutter schüttelt den Kopf ganz stumm;
Sie sieht sich kaum nach dem Fenster um,
Zieht mit sich fort ihr bittendes Kind.
Auf bleicher Wang' eine Thräne rinnt.
„V Mütterchen, sei gut, sei nett!
D sieh einmal, wenn ich das Schirmchen hält',
Ich wünschte mir nichts mehr, so glücklich wär' ich;
Prinzessin Schönchen dünkte ich mich.
Und wollte auch immer ganz artig sein,
Und bin doch dein liebes Töchterlein?
Und bist mir doch gut, o Mutti, ja? —
So geh und kauf inir das Schirmchen da."
wie hält die Mutter das Händchen so sest,
wie sind ihre kippen zusammengexreßt!
weit in die Ferne das Auge starrt.
Dann aber sagt sie kurz und hart:
„Ich habe kein Geld." — Und mit hastigem Schritt
In einen Bäckerladen sie tritt.
Dort kauft sie ein ein kleines Brot
Und giebt ein Geldstück blank und rot —
Ls ist ihr letztes — und wieder erhält
Die ganze Hand sie voll Silbergeld. —
Ls schaut das Kind mit Blicken so heiß,
So vorwurfsvoll. Dann sagt es leis:
„Mir wollt'st du nicht kaufen den Schirm zum Spiel
Und hast doch Geld — so furchtbar viel!"