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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 2.1913

DOI issue:
II.5
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Hug-Hellmuth, Hermine von; Lorenz, Emil; Reik, Theodor; Špilʹrejn, Sabina Nikolaevna; Klette, Werner; Hárnik, Jenö; Rank, Otto: Vom wahren Wesen der Kinderseele, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.42095#0538

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Mutterliebe

523

neigung gegen den andersgeschlechtfichen, Gefühle, die aus unbewußten in*
zestuösen Wünschen entspringen. Aus diesem Gemisch von Liebe und Haß
heraus mustert die kleine Liddy die Gestalt des Vaters, erscheint ihr der
»dünne, blasse, nackte Hals mit dem nach oben scharf absetzen*
den roten Rand, als etwas völlig Fremdes, irgendwie Beleidigendes1.
Auch hier klärt uns die psychoanalytische Forschung über das scheinbar
Seltsame in den Gedankengängen des Mädchens auf,- der Hals ist nur ein
Symbol, und was Liddy so beleidigend dünkt, ist die sorglose Entblößung
des Vaters vor ihr, dem werdenden Weibe. Und darum hat sie das
beißende Gefühl des Unrechtleidens, des Mißachtetseins, das sich freilich ver*
eint mit dem angstvollen Wunsche, unbemerkt zu bleiben. Denn sie fühlt,
daß ihr noch mehr Vorbehalten ist, als sie bis jetzt geschaut. Aber auch
der Vater sieht in seinem jungen Kinde ein Stück erwachende Weibesseele
und nach kurzem zögernden Blick auf das Mädchen, löscht er das Licht,
ehe er sich vollständig entkleidet. Mit diesem Zögern des Vaters zerreißt
der Schleier vor Liddys Augen, Scham und Qual lassen ihre Tränen
fließen. Sie empfindet in ihrem Unbewußten die Schuld ihrer Seele, welche
die Inzestschranke in Phantasien und Blicken durchbrechen wollte, und sie
empfindet zugleich mit Groll die Unfertigkeit, die Halbheit ihrer zwölf
Jahre: kein Kind mehr und noch kein Weib. Dieser Konflikt der Seele
drängt ihr heiße, schamvolle Tränen in die Augen, reift in ihr den Ent*
Schluß, der unheilvollen, unerträglichen Situation zu entrinnen. Leise
schlüpft sie, da sie das gleichmäßige, ruhige Atmen des schlafenden Vaters
hört, in ihre Kleider und eilt ohne Schuhe mit leisen Schritten hinaus zur
Tür, über den Flur hinüber ins Wohnzimmer, Aufatmend, wie einem
schrecklichen Spuk entronnen, sucht sie im Finstern den Weg zum Diwan.
Und hier ebbt die Erregung ihrer Sinne und ihrer Phantasie und »zusammen*
gerollt in tiefem Kinderschlaf findet die Mutter sie am nächsten Morgen.«
Dr. v, Hug*Hellmuth.

V.
Mutterliebe.
Ein sechsjähriges Mädchen möchte gerne ihr kleines Brüderchen zu
sich ins Bettchen haben. »Muttchen«, bittet sie, »laß mich sein herrliches
Körperchen genießen«2. Das sehr streng überwachte Mädchen hat »keine
Ahnung« von sexuellen Dingen. Es handelt sich hier um »mütterliche«
Gefühle, welche das ältere Schwesterchen dem »Körperchen« gegenüber
hegt. Wir dürfen annehmen, daß dem Kleinen die Berührung seines
Schwesterdiens ebenso angenehm ist. Warum soll es uns wundern/ wenn dieser
Eindruck, wie jeder andere, eine Spur in unserer Psyche hinterläßt? Warum
soll die Behauptung unwahrscheinlich Vorkommen, daß die erste »körper*
liehe Liebe« des Erwachsenen auf diese infantilen Erlebnisse zurückgreift,
indem die seligmachende Berührung der geliebten Frau mit der einst selig*
machenden Schwesternberührung, mit Mutterberührung verglichen wird. Haben
wir dieses Zurückgreifen auf infantile Erlebnisse anerkannt, dann muten
auch neurotische Erscheinungen nicht sonderbar an: bei einer stärkeren
Fixierung an das mütterliche Vorbild würden große Widerstände jedem
Objekte der sexuellen Liebe gegenüber auftreten, denn bei jedem Frauen*
1 Von mir gesperrt.
2 Russisch: »Doj mnie nasladitjsia ewo trehudnym tielzem.«
 
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