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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 7.1921

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Deutsch, Helene: Zur Psychologie des Mißtrauens
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https://doi.org/10.11588/diglit.28545#0079
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Zur Psychologie des Mißtrauens

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Zur Psychologie des Mißtrauens'.
Von Dr. HELENE DEUTSCH (Wien).
1 *^er PsyAoanalyse ist es bereits mehrfach gelungen, dem tieferen
^Verständnis der Aarakterbildenden Kräfte näher zu treten und
JL-V sie auf die unbewußten Quellen zurüAzuführen. Der Weg
dazu führte meist durch die an den Neurotikern gewonnenen Be-
fahrungen, bei denen wir das, was wir im Normalen Charakter-
eigenschaften nennen, oft in pathologischer Verstärkung als Symptom
wiederfanden.
In meinem Versudie, den psychischen Mechanismen des Miß-
trauens als Charaktereigenschalt näherzutreten, wurde mir die
Tatsache behilflich, daß das Mißtrauen einerseits als äußerst häufiges
Symptom bei allen Formen von Übertragungsneurosen, besonders
bei der Zwangsneurose auftritt, daß es im Verfolgungswahn der
narzißtischen Neurosen zu finden ist und daß seine Verbreitung im
scheinbar Normalen, also außerhalb der Neurose, oft auffällige
Formen annimmt. Ich weise hier auf das Verhalten der Taub-
gewordenen, deren Mißtrauen allgemein bekannt ist, hin, auf die
diesbezügliche Charakterveränderung im Alter und auf die merk-
würdige Tatsache, die auA der gröberen Beobachtung zugänglich
ist, daß in den letzten Jahren die ganze menschliche Gesellschaft ein
Mißtrauen ergriffen hat, dessen Erklärung aus realen Gründen den
TieferbliAenden nicht befriedigen kann.
Das Auftreten eines psychischen Phänomens unter so ver-
schiedenen Bedingungen wird für den Psychoanalytiker nidtts Be-
fremdendes bieten. Sind wir fa durch die Erfahrungen der Analyse
belehrt worden, daß das, was wir psyAisA gesund oder krank
nennen, nicht prinzipiell versAieden ist, daß die praktisA bestimm-
baren Grenzen nur durA die Intensität, Verteilung, gegenseitiges
Verhältnis derselben psyAisAen Fundamente, die den Dauerbesit?
der PsyAe bilden, variieren.
Die TatsaAe, daß ein psyAisAes Phänomen unter so ver-
sAiedenen Voraussetzungen auftritt, daß es unter gewissen Bedin-
gungen viele Mitglieder eines Volkes ergreifen kann, daß eine
organisAe Erkrankung (iA meine die Taubheit) eine physiologisAe
Bedingtheit (das Alter) bei Individuen der versAiedenen Rassen, ver-
^ Vortrag, gehalten auf dem VI. Internationafen Psychoanalytischen Kongreß
im Haag, 8. bis 12. September 1920.
 
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