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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 7.1921

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Hug-Hellmuth, Hermine von: Vom wahren Wesen der Kinderseele: vom "mittleren" Kinde
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https://doi.org/10.11588/diglit.28545#0102
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Dr. Hermine HugAfellmuth

Die Schattenseiten des Lehens eines mittleren Kindes bleiben vieL
leiAt am meisten dem Knaben zwischen zwei Schwestern erspart. Ist er
der älteren ziemtich nahe an fahren, so fällt ihm bald der erste Platz in der
Kinderstube zu, indes die beiden Mädchen sieb naturgemäß stärker aneinander-
schließen.
Die natürliche Lebensfreude des gesunden Kindes verhüllt uns die
Kämpfe der jungen Seele. Auch das rein Individuelle verdunkelt oder
verwischt das Typische. So sehen wir auch das mittlere Kind häufig
harmlos und fröhlich sein Dasein genießen. Aber dem genauen Beobachter
entgeht es nicht, daß auch in ihm jene für seine Art kennzeichnenden
Charakterzüge, wenn auch bisweilen nur in Andeutungen, vorhanden sind.
Auch die Märchen, die uns die Welt des Alltags wunderbar spiegeln,
erzählen uns vom Geschicke des mittleren Kindes. Fast immer verläuft
es in den vorgegebenen Bahnen des Schicksals des älteren. Der mittleren
der »drei Schwestern mit dem gläsernen Herzen^ ergeht es zwar nicht ganz
so schlecht wie der ältesten, aber auch ihr Herz leidet Schaden und mit
einem Sprung im gläsernen Herzen muß sie sich begnügen, als Zuschauerin
am Glück der Jüngsten teilzunehmen. Das Jüngste aber trifft regelmäßig ein
herrliches Los,- ist es ein Knabe, so vollbringt er Heldentaten und erringt
eine Prinzessin zur Frau,- ist es ein Mädchen, so holt es ein Prinz als seine
Braut. Nur der jüngste der »vier kunstreichen Brüder« teilt das Los
des ältesten und der beiden mittleren,- über die Meisterschaft in einer Kunst-
fertigkeit versäumt er, die große Kunst des Lebens zu erlernen. So ver^
bringen denn alle vier ihr Leben unbeweibt, ohne große Freuden und
Leiden in stiller BesAauliAkeit. Nur in einem Märchen ist der mittleren
dreier Schwestern ein großes Glück bestimmt, indes die älteste und die
jüngste als Bettlerinnen zu der einst gehaßten Schwester kommen: ZweL
äuglein, das von Rinäuglein und Dreiäuglein, die stolz darauf sind,
anders zu sein als die gewöhnlichen Menschenkinder, gehaßt wird, weil es
zwei Augen hat wie alle MensAen, wird für sein schlimmes Leiden belohnt
mit Reichtum, Liebe und Glück. Die Älteste und die Jüngste trennen ihre
eigenen Vorzüge von den Menschen,- die Mittlere, die so ist wie alle, wird
erhöht. Mir scheint Zweiäuglein das Symbol des mittleren Kindes zu sein,
das infolge seiner wenig bevorzugten Stellung im Elternhaus frühzeitig
lernt, sich andern anzupassen und hilfreiA zu erweisen. Diese Kunst hilh
ihm im reifen Leben seinen Platz reAt auszufüllen. Und daß das MärAen
von drei Schwestern erzählt, hat seinen guten Sinn: Gerade die Frau
bedarf der Fähigkeit siA anzupassen und ohne diese Gabe bleibt sie, gleiA
Einäuglein und Dreiäuglein, trotz aller wirkliAen und eingebildetön Vor-
züge des Körpers und des Geistes eine Bettlerin im ReiAe der Liebe

Buchdruckerei Carl Fromme, Oes. m. b. FL, Wien V.
 
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