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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 11.1925

DOI issue:
Heft 4
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Hermann, Imre: Gustav Theodor Fechner: Vortrag in der Ungarischen Psychoanalytischen Vereinigung, 1924
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https://doi.org/10.11588/diglit.36528#0425

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Gustav Theodor Fechner

4°9

Sinne) erzeugt; 2) eine seelische Einstellung, die wir Seherkomplex
nannten, und die darin besteht, daß man von der eigenen prophetischen
Natur überzeugt ist und im Leben Beispiele dieser Fähigkeit liefert; 3) eine
libidinöse Einstellung, die wir den Totenkomplex nannten, und die
sich darin äußert, daß der Betreffende mit Vorliebe Tote oder Schein-
tote liebt und sich als Toter (Scheintoter) lieben lassen will. Der Seher-
komplex gibt sich in den im voraus bestimmbaren Wiederholungen der
Form (Reim, Rhythmus) kund, der Totenkomplex offenbart sich im Lieben
der flüchtigen, kaum geborenen, schon verschwundenen Laute der Sprache.
Der Seherkomplex kann organisch durch einen besonderen Libidotonus
der Augen und Umgebung (Stirn) repräsentiert werden, der Totenkomplex
durch besondere Schicksale (besondere Qualität?) des Todestriebes.
Die Begabung des Denkers ist begründet durch einen temporär erhöhten
Libidotonus des Gehirns, der so zustande kommt, daß gewisse schmerz-
hafte Ereignisse aufgesucht, das Gefühl des Schmerzes aber aufgehoben wird,
indem man während der schmerzlichen Szene bestrebt ist, über etwas nach-
zudenken, um dem Schmerz jede Aufmerksamkeit zu entziehen. Durch
den Schmerz geschaffene narzißtische Libido wird somit zu intellektuellen
Gestaltbildungen, zu Vertiefungen^ verwendet. Ich nannte das „über-
gangsmasochistische Schmerzgrundlage" des Denkers Z In Anbetracht der
schriftstellerischen Tätigkeit des Forschers sollen auch die eben genannten
drei Faktoren vorhanden sein, vielleicht mit geringerem Hervortreten des
Totenkomplexes und der Erogeneität der Mundzone und auffallenderer
Mitwirkung einer Art Seherkomplexes (Wissen = Vorauswissen).3
Die Einführung der erogenen Handzone hat unsere Aufmerksamkeit
auf verschiedene Verhältnisse dieser Zone gelenkt. Wir fanden die primäre
adäquate Betätigungsart dieser Zone im Anklammern an die Mutter (wie
bei gewissen Säugetieren und auch den Menschenaffen),4 also in einem
beim menschlichen Säugling — in der kulturellen Stufe — nicht mehr

1) Siehe Intelligenz und tiefer Gedanke. Intern. Zeitschr. f. PsA, VI, 1920.
2) Winterstein will unter den Philosophen zwischen den mystischen Masochisten
und amystischen Sadisten unterscheiden (Psychoanalytische Anmerkungen zur Ge-
schichte der Philosophie, Imago, Jahrg. II, 1915, S. 3go). Wir haben im obigen den
Mechanismus des Wirkens dieser Charakterziige angegeben.
g) Diesen letzten Zusammenhang zwischen Dichter und Denker sieht auch Winter-
stein (a. a. O. S. 206): „Vielleicht sind eigentliche ,Weltanschauungen' bloß die
Schöpfungen dieses visuellen Typus (des ,Schauers' -— Chamberlain), dem der Typus
des Dichters so nahe steht."
4) Vgl.: Zur Psychologie der Schimpansen. Intern. Zeitschr, f. PsA, IX, 192g.
 
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