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Justi, Karl
Das Marburger Schloß: Baugeschichte einer deutschen Burg — Marburg-Lahn, 1942

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https://doi.org/10.11588/diglit.41372#0031
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Arbeitsgemach) und des Wohnturms versorgte. Zweifellos war
die Wendeltreppe so eingerichtet, daß der Eingang in das Ar-
beitsgemach bündig war; der Zustand, daß aus der Treppen-
pforte mehrere Stufen in das Gemach hinabführen, resultiert
aus der Überhöhung der Treppe im Jahre 1567. Auf Grund
der sicherlich sorgfältig ausgeklügelten Symmetrie dieses vor-
nehmsten Privatraumes im ganzen Schloß darf man wohl an-
nehmen, daß, wie die drei Fenster, auch die Treppenturm-
pforte, in einer Rundbogennische stand.
Der Kirchenbau.
Der Kirchenbau steht auf einer 16 : 10 m großen mit dem
Innenhof bündigen Grundfläche mit östlichem Fünfachtelschluß
auf gewachsenem Fels. Das zweigeschossige Gebäude ist an
der Südfront bis zum Hauptgesimse 22 m, bis zum Dachfirst
31 m hoch. Die architektonischen Gliederungen bestehen aus
unverwüstlichen Quadern, die nach ihrer petrographischen Be-
schaffenheit demselben Steinbruch wie die Elisabethkirche,
nämlich über Wehrda entnommen worden sind. Die Wände
sind aus Bruchsteinen gemauert. Am Maßwerk des südlichen
Mittelfensters der Kapelle hat sich unter dem Jahrhunderte
währenden Schutz eines großen Zifferblattes eine Spur der
dunkelroten Bemalung erhalten. Die Wände müssen wir uns
als hellgrau getüncht vorstellen.
Der Keller. In der Mitte ist ein überwölbter Keller
ausgesprengt. Der Abfall des Geländes erforderte eine 6,50 m
hohe südliche Abschlußmauer, die mit zwei Fenstern versehen
ist. Von dem ersten Obergeschoß führt eine zweifach gebro-
chene Treppe hinab. Die jetzige Tür hat sich gegen Ende des
vorigen Jahrhunderts der Konservator L. Bickell brechen lassen,
um den Nordwinden zu entgehen, die im Herbst und im Früh-
jahr um die Burgpforte toben. 3)
Erstes Obergeschoß. Die Wände sind für einen
Kirchenbau auffallend stark entwickelt. Die Längsseiten sind
1,50 und 1,70 m stark; das Ostfenster durchbricht stufenförmig
eine fast 4 m dicke Mauermasse (T. 126, T. 32, 1). Der Grund-
riß (T. 126) legt die Vermutung nahe, daß dies Geschoß die
Bedeutung einer Bastion hatte, die an die Stelle des alten
Wehrturms getreten ist. Die Kreuzstockfenster boten einem
Schützen günstige Stellung und Deckung. Der sehr malerische
Raum wird von zwei rippenlosen Kreuzgewölben auf recht-
eckigen ungegliederten Vorlagen und schwerem Quergurt über-
deckt. Das westliche größere Netz ist durch die eigenartige
Wandabstufung in der Südwestecke etwas verschoben. Drei
der verschieden tiefen Schildbogen umfassen die eingenisch-
ten Spitzbogenfenster, deren Gewände nach außen abgeschrägt
und innen mit Aufschlagfalz versehen sind. Das westliche Süd-
fenster hat, wie erwähnt, E. Baldwein 1572 in die Tür zur
Rentkammer umgewandelt. Neben der Tür wurde ein Kamin
für die Rentstube in die Mauer eingefügt (T. 126, Lücke).
Die beiden anderen Fenster vermauerte Baldwein aus stilisti-
schen Rücksichten zu rechteckigen Öffnungen; K. Schäfer stellte
1872 den alten Zustand wieder her. Der Eingang liegt auf
der Nordseite; das rechteckige Türgericht ist mit einer Kehle
verziert und mit einem eingelassenen Querpfosten für ein
Oberlicht ausgestattet.
Die Gewandkammer. In dem Ostteil des unteren
Geschosses befand sich wahrscheinlich die Gewandkammer,
die „almusin kamer“. Sie kommt zuerst 1372 vor: ,,. . . unde
löchere hinder der almusin camern zu stoppene da daz waszir
in der gefangen kelre ging. Umme lattin nehele (Lattennägel)
und bort nehele daz dach (die Decke) ubir der almusin camern
widder zu machen 22 s. h.“ Außerdem wird erwähnt ein neues
Schloß an die Kammer unter der Kapelle. Das merkwürdige
Wort almusin geht nach den Untersuchungen von Ferdinand
Justi auf die Sanscritwurzel muschti zurück, dem im Arabi-
schen der Artikel al vorgesetzt wurde; es bedeutete einen Pelz-

mantel mit langen Ärmeln. Das mlat. almucium ist ein Man-
tel mit Kopfhülle und Kapuze, den die Geistlichen anlegen,
wenn sie bei nächtlichem Dienst zur Kirche gehen, aber vor
dem Altar abzulegen haben. Aus dem almucium stammt unser
Wort Mütze. 1372 wird eine „gute Casel (Priestergewand)
mit bunten Löwen“ erwähnt. Die Almusinkammer war also
der Raum, wo die Chorpelze aufbewahrt wurden und befand
sich wahrscheinlich im Kirchengebäude und zwar, bei der
Nachbarschaft des Kellers, in der Ostapsis des 1. Obergeschos-
ses. Anno 1597 zerbrach ein gewaltiges Unwetter in der Ge-
wandkammer 106 Fensterscheiben. In dem Inventar von 1607
kommt sie im Anschluß an die Kapelle vor. 1749 erscheint der
Ostraum als Gewölbe der Rentkammer zugeschlagen.
Das zweite Obergeschoß. Die Kapelle.
Für den Besucher des Schlosses ist es immer wieder eine
Überraschung, auf einer mittelalterlichen Burg, deren Wesen
die sparsame Ausnutzung des beschränkten Bauraumes und
die möglichst große Wehrhaftigkeit war, in einen so großen
prachtvollen Kirchenraum einzutreten. Er zeugt, wie der Fest-
saal, von der hohen Kunst und dem Reichtum — in dem Ab-
laß von 1289 heißt es: qui praedictam capellam propriis
sumptibus construxerunt —•, aber auch von der angestammten
Frömmigkeit des Bauherrn.
Wirkt der große Festsaal durch seine Weite, die Wucht
und die bewußte Schlichtheit der Raumgestaltung, der die
romanische Aufteilung in Quadrate zugrunde gelegt ist, so
bewundert man hier, aus dem sehr engen dunklen Treppen-
turm hinaustretend, die lichtdurchflutete, himmelwärts-
strebende Höhe, den von dem überkommenen Schema ge-
lösten Reichtum des Aufbaus, die klare Herausstellung und
reizvolle Führung der Kraftlinien in schlanken Diensten, fein-
gliedrigen Rippen, die freigebige Ausschmückung der Kapi-
tale und des Maßwerks der Fenster, die das abschließende
Mauerwerk bis auf die Brüstung hinab ersetzen. Diese ist im
Gegensatz zu dem Festsaal hoch genug geführt um den Blick
in das Freie zu verwehren. Der Kirchgänger findet sich völlig
von der Außenwelt abgeschlossen, ohne sein Zutun in eine
andächtige feierliche Stimmung versetzt. Kein Zweifel, daß
es ein Architekt eisten Ranges war, der den Plan für diese
Kirche ersonnen hat.
Der Grundriß, der nicht ganz die Fläche von zwei
der zehn Gewölbe des Festsaals hat, läßt sich aus einem Acht-
eck von 2,50 m Seitenlänge ableiten, wobei in die meridionale
Achse zwischen zwei Gurtbogen ein Querhaus von 8,60 m
Länge und 3,70 m Breite mit seitlichen trapezförmigen Aus-
kragungen eingeschaltet ist. Diese ruhen auf Konsolen, deren
nördliche prächtig geschmückt, deren südliche von K. Schäfer
ohne Ornamentik dargestellt (T. 169) und in dem Mauerwerk
der Rentkammer aufgegangen ist. Die Länge des Innenraumes
beträgt 12,8 m, die Breite 6,1 m und die höchste Jochhöhe
10 m. Man kann von einem Zentralbau sprechen, wie er uns
in Marburg in dem Chorbau der Pfarrkirche entgegentritt. Wir
finden solche Bauten öfters in Burgkapellen; so auf der Kru-
kenburg bei Helmershausen einen 1120 geweihten Rundbau
mit viereckigen kreuzförmig vorgelegten Anbauten, in Rieneck
(Unterfranken) ein Quadrat mit Apsiden an drei Seiten, in
Lahneck ein im Achteck geschlossenes Rechteck mit zweiseiti-
gen Ausbauten an den beiden Längsseiten (Piper, S. 188).
Küch hat in seinem Aufsatze von 1921 die Möglichkeit
erwähnt, daß die Kapelle auf ihrer Plattform, dem unteren Ge-
schoß, anfänglich frei gestanden hätte. Diese Ansicht setzte
voraus, daß der angrenzende kleine Festsaal nach der Kapelle
erbaut worden wäre, und daß kein anderes Bauwerk im Wege
gestanden habe. In diesem Falle wäre der Westabschluß gewiß
das Spiegelbild der Ostapsis gewesen. Tatsächlich ist die
immer wieder betonte Symmetrie durchaus nicht vollkommen.

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