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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 37.1921-1922

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Hildebrand, Adolf von: Über das Generelle und Individuelle in der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.14154#0036

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So gut wie den Menschen kann man natür-
lich alles in der Natur porträtieren und das
Bezeichnende dieses Verhältnisses zur Natur
ist, daß dabei das Individuelle stets als ein
von außen direkt Gegebenes, nicht als ein rein
aus innerer Konsequenz Entwickeltes, erfaßt
wird. Es tritt dabei die gegebene Natur immer
als ein mitschaffender Faktor auf und stellt
dem Künstler reichere oder ärmere Ausdrucks-
mittel zur Verfügung, weshalb die Wahl der
Natur von großem künstlerischem Einfluß auf
das Kunstwerk sein wird.

In anderer Beziehung zur Natur steht das
freie Schaffen. Die Vorstellungskraft befähigt
uns, unsere Wahrnehmungen und Augenerleb-
nisse wie in einem Behälter aufzubewahren,
worin sie weiterleben und sich unbewußt um-
wandeln, indem das uns Eindrucksvolle an
ihnen sich weiter entwickelt, das unwesent-
liche verkümmert. In dieser Umwandlung lebt
eine produktive Kraft und in ihr bekundet sich
schon die Art der Gesichtspunkte, die bei dem
betreffenden Künstler maßgebend sind. Aus
dieser Fülle der Einzeleindrücke, die uns nur
teilweise ins Bewußtsein treten, kann aus irgend-
welchem Anlaß durch einen Kristallisations-
prozeß eine sprechendeKonstellation zusammen-
schießen, in derselben Weise, wie uns blitz-
artig ein Gedanke kommt. Solche Vorstellungs-
konstellationen treten als Vision auf. Es ist ein
von innen entstandenes noch nicht überseh-
bares, selbständiges Naturprodukt, was uns da
überkommt. Es gleicht einem Teppichmuster
aus unendlich vielen Fäden gewoben, die als
Beziehungen zwischen Einzeleindrücken un-
bewußt vorhanden waren und die nun in eine
bestimmte Ordnung getreten sind. Je naturge-
mäßer sich die Fäden geordnet und zum Motiv
geeinigt haben, desto gesünder und lebens-
fähiger wird dieses sein. Mit dem Bedürfnis,
diese Fäden nach allen Seiten hin weiter zu
verfolgen und ans Tageslicht zu bringen, wird
solch ein Motiv dann zum Ausgangspunkt der
bewußten künstlerischen Arbeit. Außerdem steht
aber solch Motiv in einem natürlichen inner-
lichen Zusammenhang zu der Gesamtheit der
Empfindungs- und Vorstellungswelt des Künst-
lers. Denn es ist ihr Naturprodukt und hängt
mit tausend Fäden mit ihr zusammen als Teil
eines Ganzen. Als solches wird es auch im
Kunstwerk empfunden mit all seinen Wurzeln
und unsichtbaren Verzweigungen bis in den
Untergrund der unbewußten seelischen Zu-
sammenhänge. Als Sammel- und Knotenpunkt
von Lebenseindrücken enthält es sowohl eine
Einheit als auch eine individualisierende Kraft,
denn es ist selber ein individuelles Produkt
gegenüber dem Ganzen unserer Vorstellungen.

Nehmen wir z. B. die Vorstellung eines rennen-
den Menschen, d. h. eine bestimmte Körper-
haltung, welche das Rennen ausspricht. Da das
Rennen nicht nur durch die Stellung, sondern
auch durch das sichtbare Spiel der beweglichen
Muskeln sich ausdrückt, so ist ein dicker und
alter Körper von selbst ausgeschlossen. Der
Vorwurf verlangt einen schlanken Wuchs, wo-
mit schon eine individuelle Eigenschaft gegeben
ist, aus dem Bedürfnis, die generelle Funktion
zu verdeutlichen, spezialisiert sich Glied für Glied
in der Vorstellung als Ausdruck des organisch
notwendigen Zusammenhangs der Bewegung.
Um diese noch augenfälliger zu machen, fliegt
vielleicht das Haar im Winde; Ausdruck der
Hast und Eile gibt dem Gesicht seine Form
und so nimmt die Figur durch das Motiv des
Rennens einen speziellen Charakter an, bei dem
alles hervorgehoben ist, was die Bewegung ver-
deutlicht. Ist es gelungen, dieses Leben der
Figur überzeugend zu gestalten, so glauben
wir an die Figur, der Körper lebt, mit ihm ein
individuelles, ohne daß die Vorstellung eines
bestimmten Individuums dabei mitgespielt hat.
Wie weit die Spezialisierung oder Individua-
lisierung Bedürfnis ist, hängt von der geistigen
Atmosphäre ab, aus der der Vorwurf stammt.
Ob dieser mehr einer elementaren Welt an-
gehört, oder mehr einer genrehaften, zufälligen,
wird seine Art bestimmen. Auf diese Weise
entsteht eine Art Individuelles, dessen Elemente
stets mit der konsequenten Weiterentwicklung
oder Realisierung des Vorwurfs entstanden
sind, nicht aber aus direkten äußeren Tat-
sachen wie beim Porträt. Es besteht also ein
innerer, durchweg notwendiger Zusammenhang
zwischen der Gesamtvorstellung und der Ein-
zelvorstellung. Ein homogenes Vorstellungs-
material, welches die größte Bestimmtheit er-
langen kann, ohne jemals aus dem Bereich der
inneren Vorstellungswelt herauszutreten und
sich als Porträt an eine einzelne bestimmte
Wirklichkeit zu halten oder davon auszugehen.

Wie verschieden solcher Vorwurf auch ohne
verschiedenen Körpertypus individualisiert, wird
sehr gut durch folgende Tatsache erhellt. Ich
hatte einen gut gebauten jungen Mann als Mo-
dell. Wenn ich ihn in die Stellung des Theseus
von Phidias brachte, so sah er aus, als hätte
er dazu Modell gestanden. Dasselbe war aber
auch der Fall, wenn er die Stellung des Sklaven
von Michelangelo annahm. Auch da kam alles
genau so heraus wie in der Statue. Das zeigt
also, daß das, was zu so ganz verschiedenen
individuellen Resultaten führt, nicht die Ver-
schiedenheit zweier Modelle zu sein braucht,
sondern die Verschiedenheit des Vorwurfs ist,
und der Stellung, welche ganz verschiedene

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