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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 37.1921-1922

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Clemen, Paul: Carl Anton Reichel
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CARL ANTON REICHEL

Von Paul Clemen

Der seltsame Europäer, der den Namen Carl
Anton Reichel führt, war vor dem Kriege
zwischen Budapest und Paris eine vielen der
Besten aus jener alten mittelkontinentalen Ge-
sellschaft bekannte Erscheinung, mit nicht we-
nigen durch enge, in erregt durchgesprochenen
heißen Nächten rasch entstandene Freundschaft
verknüpft, der Mensch vollgestopft mit den
Reichtümern der alten europäischen Bildung
des Südens wie des Nordens und vertraut mit
den Geheimnissen der asiatischen Weisheit,
aber auch füll of all fun, hellseherisch und
grüblerisch, einer der wunderbarsten Plauderer,
ein faszinierender Erzähler, der auch Wildes
„gentle art of lying" virtuos und lächelnd übte,
dessen unwahrscheinlich großen blauen bohren-
den Augen sich schwer der Partner entziehen
konnte, Psychiater und Hypnotiker, ebenso-
sehr mit einem naturwissenschaftlichen und
medizinischen Auge ausgestattet, wie mit ma-
lerischem Blick, zuletzt aber doch überwiegend
Künstler. Auf den Ausstellungen und in den
Zeitschriften kaum gesehen, von den Leitern
der graphischen Kabinette und den privaten
Sammlern, die die feinste Witterung und da-
mit die Führung für morgen und übermorgen
haben, auf das höchste geschätzt als einer der
ganz seltenen Meister der Griffelkunst, ein Ra-
dierer von einer verblüffenden Verbindung
wuchtiger Ausdrucksstärke und tanzender Gra-
zie der Linie, Zeichner und Maler in sehr
persönlicher Note, dabei biegsam und wandel-
bar, einmal in raffinierter Strenge und in der
alten Kultur der Silhouette zeichnend und
dann stoßweise, visionär, halb schlafwandelnd,
oder in müden Zügen auf die Platte schreibend,
immer voll von ganz besonderem und selt-
samem Reiz. Meteorhaft auftauchend, plötz-
lich verschwindend, unauffindbar, der schlech-
teste Briefschreiber, unregelmäßig, unberechen-
bar. Auch ein Stück Osten und Levante:
sonst Li-tai-pe, Paracelsus, Casanova, Münch-
hausen, Brummeil, E.Th. A. Hoffmann, Mahler.

Der Träger dieses sehr vielgestaltigen Steck-
briefs ist am 6. April 1874, am Ostersonntag,
zu Wels in Oberösterreich geboren, gebürtig
aus einer alten ursprünglich fränkisch-bayeri-
schen Familie. Er hat die Gymnasien in Salz-
burg und in dem Benediktinerstift Krems-
münster besucht und hier zuerst, noch unbe-
wußt, in den Bauten Carlones einen Begriff
von der berauschenden Musik des großen Ba-

rocks erhalten. Mit einem Bruder, der als
Professor an der Wiener Universität für Bak-
teriologie und Hygiene auch die Grenzgebiete
seiner Wissenschaft suchte, hat er dann in
Prag, München und Wien studiert, zuerst Me-
dizin, das Studium dann schon am Ende der
klinischen Semester aufgegeben, um sich ganz
den psychiatrischen Grenzfragen zu widmen.
Er hat in Paris und endlich auf der großen
universitas literarum, die die Welt darstellt,
weiterstudiert, Philosophie, Kunstgeschichte,
ostasiatische Kulturen, suchend, — tastend. Ein
ganzes Jahr lang stand für ihn in Paris im
Vordergrund das Problem der Suggestion und
der Hypnose, die Frage des Spiritismus,
mit der er sich sehr ernstlich auseinanderzu-
setzen suchte. Er hat sich dann mit einer
Dame aus dem russischen Adelsgeschlecht von
Dolmatoff verheiratet und, des Weltwanderns
satt, sich nach Großgmain, dem Dorf hart an
der salzburgischen Grenze nach Reichenhall
hin, zurückgezogen, in dessen Pfarrkirche die
vier Tafeln des Rueland Frueauf leuchten —
dort hat er ganz zurückgezogen gelebt, im
Umgang mit Göttern, Zwergen, Waldgeistern
hat er systematisch gearbeitet, noch immer
im Sinne des enzyklopädischen Bildungsideals
gelernt, experimentiert. Ein Experimentieren
war für ihn auch seine Kunst. Er ist dann
nach Salzburg gezogen in das Schlößchen
Bürgelstein, das er ein Jahrzehnt lang, die
letzten Jahre zusammen mit Hermann Bahr,
bewohnt hat. Als Maler und als Sammler
noch immer von den Trieben des Amateurs
geleitet, auch als Sammler ein unruhiger Geist,
in primitiver Kunst, ostasiatischen Skulpturen,
alter Graphik lebend. Im ersten Kriegsjahre
erwarb er, das österreichische Unglück nur
allzuklar vorausahnend, in Oberösterreich den
alten Edelhof Heiligenkreuz bei Kirchdorf
am Fuße des Toten Gebirges, eine wunder-
bare Mischung der Strenge eines historischen
Herrensitzes mit der behaglichen Einfachheit
und Breite des südlichen Bauernhofes, wie sie
der Steiermärker R. H. Bartsch zeichnet. Von
dort aus hat er als Künstler, und wie Dürer
als sein eigener Geschäftsreisender, daneben
in halb diplomatischer Mission während der
Kriegsjahre noch Mitteleuropa durchreist, das
kommende Unheil frühzeitig, aber vergeblich
kündend, dort hat er zurückgezogen die Schauer
und die Erniedrigung des Zusammenbruchs der

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