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Das Kunstgewerbe in Elsaß-Lothringen — 6.1905-1906

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Vom Büchertisch
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https://doi.org/10.11588/diglit.6481#0160
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Vom Büchertisch.

Vom bücöertiscö

Leon Rosenthal, „La Peinture roman-
tique". Paris, Albert Fontemoing. 334 S. —

Wie in der Literatur so hatte sich auch auf
dem Gebiete der schönen Künste in Frankreich
am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahr-
hunderts eine ästhetische Richtung geltend
gemacht, die man häufig als gesunde-klassische
bezeichnet und die ungefähr dreißig Jahre
lang tyrannisch die Geister beherrschte, bis
sie dem Andränge neuer Ideen und Kunstan-
sichten weichen mußte. Und in diese Zeit,
diese vielbewegte Stilwandlung, sucht uns
M. Rosenthal in seinem Werke, die „Roman-
tische Malerei" einzuführen. Von Anfang bis
zu Ende fesselt uns seine Darstellungsweise
und seine vielseitige Sachkenntnis. Er ist mit
der Kunstliteratur jener Zeit vertraut, hat
den Entwicklungsprozeß der neuen Schule
gewissenhaft verfolgt und ist überall redlich
bemüht gewesen, auch der ihm weniger sym-
pathischen Partei gerecht zu werden und
Klarheit und Ordnung in die wiedersprechend-
sten Erscheinungen zu bringen. Ist es ihm
gelungen, in scharf abgegrenzten Umrissen
den Romantismus zu charakterisieren und zu
bestimmen ? Wir glauben, daß hierin noch
viel zu tun übrig bleibt, wenn überhaupt ge-
genwärtig dieses Ziel schon erreichbar sein
sollte' Aber hierin teilt er eben nur das
Schicksal aller derer, die sich mit jenem
merkwürdigen Übergangsstadium beschäftigt
haben; denn obgleich sowohl die Literatur
wie die Kunst vom Anfange des 19. Jahr-
hunderts bis auf den heutigen Tag in Bezug
auf Form und Inhalt, auf Vorstellungen und
Gesinnung gewaltige Metamorphosen durch-
gemacht haben, so stehen wir noch zu sehr
inmitten des geistigen Getriebes, das nur die
Weiterentwicklung der damaligen geistigen
und künstlerischen Umwälzung ist, als daß
wir im Stande sein sollten, ein vollkommen
unparteiisches und gerechtes Urteil darüber
zu fällen. Rosenthals Sympathien sind, wie er
selbst eingesteht, ganz auf Seite der Roman-
tiker. Was ihn übrigens nicht verhindert, auch
Künstlern der entgegengesetzten Richtung
gerecht zu werden. Meisterhaft zeigt er wie
schon zur Zeit der vollen Herrschaft Louis

Davids von seinen Schülern Ingres, Gros und
anderen neue Wege eingtschlagen und unter
der Macht der Verhältnisse verlassene Gebiete
wieder betreten werden. Das Alte stürzt
zusammen, die Gegenwart beschäftigt alle,
Religion und Geschichte treten in den Vor-
dergrund und das germanische Element dringt
von England aus ein.

Zu gleicher Zeit wendet sich ein großer
Teil der führenden Geister wieder dem Mittel-
alter zu, während andere im fernen Orient
jene Zauberwelt suchen, die ihrer unbefrie-
digten Seele noch phantastisch und nebelum-
flossen vorschwebt.

Ingres, Gericault, Prudhon, um nur die
bedeutendsten zu nennen, haben mit der alten
Schule noch lange nicht gebrochen, wenn das
Stürmen und Drängen der Romantiker, deren
hervorragendste Vertreter Delacroix, Boning-
ton, Decamps sind, die alten Schranken durch-
bricht und zu einer neuen Ästhetik führt.
Der Romantiker entnimmt, unbekümmert um
die ihn umgebende Wirklichkeit, Bilder und
Formen seiner innern Welt und schafft eine
Stimmung, die ganz seiner gefühlvollen und
freien Individualität entspricht.

Form, Farbe und Komposition werden
in Einklang gebracht und wechseln je nach
der Stimmung und Anschauung eines jeden.
Was wir trotzt vieler Verirrungen und Über-
treibungen an den französischen Künstlern,
wie sie uns Rosenthal vorführt, bewundern,
ist die hohe, geistige Entwicklung, die wir bei
den meisten finden und die Mäßigung, die sie
auch im heißesten Kampfe nie ganz verläßt.
Leider enthält das Buch keine Abbildungen;
dieser Umstand macht es demjenigen, der
nicht Gelegenheit hat, besonders die großen
Pariser Museen zu besuchen und sich aus
eigener Anschauung ein Bild über diese wich-
tige Zeit zu verschaffen, unmöglich mit dem
nötigen Verständnis dem Verfasser überallhin
zu folgen. Und doch verdient sein Buch die
volle Beachtung des kunstliebenden Lesers
und noch lange den Dank derer, die sich mit
der Evolution der Kunst im 19. Jahrhundert
zu befassen haben werden.

Z.

Für die Redaktion verantwortlich : Prof. Dr. Leitschuh.
 
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