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Die Betrachtung der spätgotischen Tafelmalerei beginnen wir
12 mit einem kleinen Bild von 1419. Diese Fichtenholztafel
(39x21,5 cm) ist in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Sie ist
beidseitig bemalt. Die Rückseite trägt in Harzölmalerei das
wohlerhaltene jüngere Bild einer Hl. Kümmernis (auch Gna-
denbild des „Volto Santo" in Lucca bezeichnet) (siehe Seite 84).
Die Vorderseite zeigt als stark beschädigte Leimfarbenmalerei
das Schweißtuch derhl.Veronika,darüberaufstumpf-dunkelro-
tem Grund groß aufgeschrieben die Jahreszahl 1419 in arabi-
schen Ziffern. Damit weist sich dieses Bild als das älteste
Gmünder Tafelbild und dazuhin als eines der frühesten datier-
ten schwäbischen Tafelbilder überhaupt aus. Die weder stili-
stisch noch inhaltlich, weder maltechnisch noch in der Erhal-
tung übereinstimmende doppelseitige Bemalung läßt sich so
erklären: Das Veronikabild war der Predella eines Münsterreta-
bels eingefügt, das bei dem Einsturz der beiden Münstertürme
1497 zerstört wurde. Aus dem Schutt geborgen schmückte ein
Maler um 1500 die ihm geeignet erscheinende Tafel mit einem
neuen Bild auf neuer Schauseite.

Wir schätzen heute das ältere Bild höher ein. Das Antlitz des
Gemarterten, das nach der Legende in dem von Veronika beim
Gang nach Golgatha gereichten Tuch sich abgebildet habe,
zeichnete der Meister flüssig und sicher und mit der ihm eige-
nen Herbheit. Möglicherweise haben wir hierein Werk von Eitel
Martin vor uns, dem ältesten und in Gmünder Urkunden zwi-
schen 1413 und 1438 mehrfach genannten Maler.10
An dieses Bild schließt sich zeitlich die kaum größere Tafel
eines Gnadenstuhles an (um 1460,54,5x34 cm). Gottvater von
vier Engeln und der Taube (dem Symbol des heiligen Geistes)
umgeben, stützt Christus im Grab. In eine Dreifaltigkeitsdarstel-
lung ist die Passion mit hineingenommen. Die Zuordnung der
Hauptfiguren samt Stützmotiv erinnert an die vorbildhaft aufge-
nommene Heilige Dreifaltigkeit des Robert Campin (Leningrad,
Eremitage), nicht jedoch die hier herrschende helle, spröd-harte
Farbigkeit. Eine fast befremdende Kühle waltet in diesem Bild.
Wie dies alles zu erklären ist, decken auch die Herkunftsanga-
ben des Bildes nicht auf. Aus dem Nachlaß von Prof. Dr. Nägele
erworben, soll es nach Aussagen der Vorbesitzer aus dem
Zisterzienserkloster Rottenmünster oder der Abtei Schussen-
ried stammen.1'

8 In Fortsetzung der mutmaßlichen Daten folgt die Marter des hl.
Georg (Gemälde auf Holz, um 1470,64,5x66,5 cm). Typisch für
jene Zeit sind die Spindelbeine und ihre gezierte Schrittstellung,
auch die verschiedenfarbigen Langstrümpfe, die in der Bild-
mitte der modebewußte Jüngling vorführt. Hinsichtlich der bild-
nerischen Mittel ist das Kühl-Distanzierende der vorigen Tafel
wie weggewischt. Und die Farben leuchten. Das ist schwä-
bische Malerei, die ihre Anregungen in jener Zeit aus dem flä- 30
 
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