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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 65.1914-1915

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Buchner, Georg: Was soll der Künstler, der Maler, von der Chemie wissen?, [5]: eine Einleitung zur Materialkunde
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https://doi.org/10.11588/diglit.8768#0236

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gehl das graue Zinn wieder in die weiße Zustands-
form über. Diese Tatsache kannte bereits Aristoteles.
Man wußte auch, daß, wenn man das normale
weiße Zinn mit grauem Zinn (unter + 20° C) in
Berührung bringt, sich das erstere langsam in graues
Zinn umwandelt und zu Pulver zerfällt. Ls hat
dieses Verhalten große Ähnlichkeit mit einer In-
fektion, einer durch Reime veranlaßten Krankheit;
deshalb wurde seit langem dieser Vorgang mit dem
ganz folgerichtigen Namen der „Zinnpest" belegt.
Derartig infizierte Zinngegenstände müssen ent-
fernt werden, wenn man die anderen normalen
gesund erhalten will. Ls handelt sich hier nicht
um die Wirkung der Atmosphäre, der Feuchtigkeit
usw., sondern nur um die Temperatur. Es findet
keinerlei Gewichts-, sondern nur Lnergieänderung
statt.

Als genaue Umwandlungstemperatur hat man
st- ^8,5° c erkannt. Ls ist das wieder ein ähn-
licher Vorgang wie bei dem überkalteten Wasser
und seinem Übergang an Lis; es ist interessant,
darauf hinzuweisen, daß bereits Aristoteles instinkt-
mäßig aus diese Ähnlichkeit beider Vorgänge hin-
wies. Aus dem Verhalten bzw. der Existenzbedin-
gung der beiden Zustandsformen des elementaren
Metalles „Zinn" ergibt sich der merkwürdige Um-
stand, daß alle unsere Zinngegenstände, wie wir
sie im täglichen Leben haben, sich in einem meta-
stabilen Zustand befinden, also in einem Zustande,
der ihnen bei gewöhnlicher Temperatur gar nicht
zukommt, und daß sie, wenn die Umwandlung keine
so langsame wäre, zerfallen müßten. Nur an war-
men Tagen, wenn die Temperatur oberhalb 18,5°C
liegt, ist ihr Zustand ein berechtigter, wirklich sta-
biler.

Und geradeso, wie man eine übersättigte, meta-
stabile Salzlösung oder überkaltetes Wasser durch
Impfung mit einem Salz- bzw. Liskriställchen zwin-
gen kann, in den bei der betreffenden Temperatur
stabilen Gleichgewichtszustand überzugehen, kann
das weiße Zinn, das sich unter seiner Umwandlungs-
temperatur von st- 18,5° 0 ebenfalls im metastabi-
len Gleichgewicht befindet, zum Übergang in die
stabile Zustandsform des „grauen" Zinns ver-
anlaßt werden, indem man es mit einem Kriställ-
chen dieser Form in Berührung läßt. Auf Grund
der Untersuchungen von Lohen, dem wir diese Auf-
klärungen verdanken, hat sich überhaupt die inter-
essante und wichtige Tatsache ergeben, daß die Me-
talle, wie wir sie heute kennen und technisch ver-
wenden, metastabile Gebilde sind, die stets zu glei-
cher Zeit mehrere allotrope Modifikationen oder
Zustandsformen nebeneinander enthalten. Deshalb

befinden sich die Metalle bei den Temperaturen,
die im gewöhnlichen Leben herrschen, nicht im
stabilen Gleichgewichte und zerfallen auf die
Dauer.

Ls hat sich das Bestehen eines allgemeinen Natur-
geschehens herausgestellt, indem bei einer Umwand-
lung einer Zustandsform eines Stoffes in eine an-
dere zunächst nicht die Form entsteht, welche die
beständigste ist, sondern es entstehen zunächst solche
Formen, die zwar beständiger sind als die verlasse-
nen, aber unter den möglichen beständigen Formen
gerade die wenigst beständigen darstellen (Stufen-
reaktionen — w. Gstwald).

So verdichtet sich, wie ich bereits ausführte, der
dampfförmige Phosphor zuerst stets in der unbe-
ständigen, metastabilen Form des weißen Phos-
phors.

Bei diesen Änderungen der Zustandsform der
mehrformigen Stoffe tritt stets auch eine Ände-
rung ihres Lnergieinhaltes ein; so ist der rote
Phosphor energieärmer als der weiße Phosphor,
denn bei der Umwandlung des letzteren in den
ersteren wird eine Wärmemenge von 3710 Kalorien
für ein Grammatom frei; ebenso ist ja auch eine
über eine Stufenleiter herabrollende Kugel auf dem
Boden angelangt energieärmer als oben.

Also Phosphor weiß —> Phosphor rot st- Arbeit.
Ls gibt Stoffe, bei denen ein prompter llbergangs-
punkt von der einen Zustandsform in die andere
existiert, und solche, bei denen nur eine beständige
und eine oder mehrere unbeständige Formen Vor-
kommen. wenn es nach diesen Erörterungen unter
gegebenen Umständen immer nur eine beständige
Form gibt, so müßten wir in der Natur nur diese
Form finden; in der Tat aber kommen in der
Natur, z. B. unter den Mineralien, viele poly-
morphe Formen vor, deren Individuen sicher oft
Gelegenheit zur Berührung mit den Keimen oder
Kriställchen der anderer: Form gehabt haben, z. B.
Kalkspat und Arragonit, welch letzterer bei Rotglut
in den ersteren übergeht. In der Natur muß also
die Geschwindigkeit des Überganges der einen Zu-
standsform in die andere eine äußerst geringe sein.
Bei diesen Zustandsänderungen spielen die sog.
Überschreitungen oder Verzögerungserscheinungen
eine große Rolle. Ls handelt sich darum, daß auch
solche Formen, die unter gegebenen Umständen un-
beständig sind, dennoch sehr lange bestehen können
und sich auch in Berührung mit der beständigen
Form sehr langsam umwandeln, Hierdurch ist es
möglich, daß wir derartige unbeständige Formen
vielfach beobachten können, ohne daß ihre Unbe-
ständigkeit zutage tritt. So kennt man drei feste

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