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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 3.1892

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Meyer, Alfred Gotthold: Die dritte Münchener Jahresausstellung, [5]
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https://doi.org/10.11588/diglit.5366#0061

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109

Die dritte München

er Jahresausstellung.

110

Die Skulptur beginnt ihre frühere Aschenbrö-
delrolle auf unseren Kunstaustellungen allmählich
zu verlieren. In München wie auch in Berlin war
sie freilich auch diesmal vielfach mehr dekorativ
verwendet, um in den einzelnen Sälen dem von
Bildern und Farben ermüdeten Blick reizvolle Ab-
wechselung zu bieten, daneben aber befand sich vie-
les von bleibendem, kunsthistorischem Wert. Den
Glanzpunkt in München bildete die Sonderausstel-
lung Adolf Hildebrands. Er zählt zu den wenigen
Auserwählten, in deren rückhaltloser Anerkennung
sich alle Parteien der „Kunsttreiber und Kunstschrei-
ber" vereinen. Seine Arbeiten sind der glänzendste
Beweis dafür, dass das heute in Künstlerkreisen
bisweilen so arg vernachlässigte Studium der Meister-
werke der Vergangenheit, zu den höchsten Zielen zu
führen vermag. Hildebrand war Schüler Krelings,
Zumbuschs und Simerings, aber diese modernen
Namen treten angesichts seiner Werke kaum noch
hervor. Einzelne der letzteren, vorzugsweise aus
seiner erste Schaffensperiode, gemahnen durch ihre
Betonung des rein Formalen an die antike Plastik
etwa eines Polyklet, so der schlafende Hirt und
der trinkende Knabe, dann auch der Kugelspieler. Be-
sonders in der Gestalt des ruhenden Hirtenknaben,
dessen jugendlich schöne Glieder im Schlaf ge-
löst sind, zeigt sich eine Verbindung von Natura-
lismus und plastischer Schönheit, die an hellenische
Kunst gemahnt. Die weitaus größere Anzahl dieser
Werke aber weist noch auf eine andere Quelle,
welcher Hildebrand seit nunmehr bald zwei Jahr-
zehnten unmittelbar nahe ist: auf die Skulptur der
italienischen Frührenaissance. Ihr Studium offenbart
sich gleichermaßen im Äußerlichen, in der techni-
nischen Behandlungsweise, im Reliefstil, in der eigen-
artigen Begrenzung der Büste, wie in der ganzen
Pliantasierichtung, in der Auffassung der Porträt- und
der Genrebildnerei, in der Wiedergabe des Nackten.
Seine Bildnisse erinnern an einen Mino da Fiesole
und Benedetto da Majano, seine Terrakotten — be-
sonders das in ein Genrestück verwandelte Familien-
bild „Mutter und Kind"— bezeugen das Studium
der Robbiawerke, und sein Steinrelief des ersten
Menschenpaares gemahnt in der Kraftfülle der Ge-
stalten an Jacopo dalla Quercia. Und dennoch sinkt
sein Werk niemals zu dem Niveau einer unselb-
ständigen, künstlich archaisirenden Arbeit herab.
Er hat die Alten und die Italiener als ein echter
Künstler studirt, er lernte von ihnen vor allem
die mustergültige Berücksichtigung des Materiales,
die in der Plastik notwendige Stilisirung einzelner

Formen, kurz das, was man im weitesten Sinne als
„praktische Stillehre" bezeichnen kann, und dies
Studium verlieh ihm ein in sich abgeschlossenes Kön-
nen von seltener Vielseitigkeit, ohne seine Individu-
alität zu gefährden. Seine in München vereinten
22 Werke umfassten Einzelstatuen, Statuetten, Grup-
pen, Hoch- und Flachreliefs, in Marmor, in Sand-
stein, in Bronze, in Thon, monochrom, getönt,
polychrom, Akte, Porträts, Genre- uud Idealfi-
guren— und überall bleibt er klassisch und individuell
zugleich. — Es soll damit nicht behauptet werden,
Hildebrand sei zu allem gleichermaßen befähigt: von
dem Gebiete leidenschaftlicher geistiger Erregung
und impetuoser Kraftäußerung, von der Steigerung
der natürlichen Erscheinung zu übernatürlicher Größe,
scheint er sich ebenso geflissentlich fern zu halten,
wie von der spezifisch malerischen Richtung der
Plastik. Aber diese bewusste Beschränkung verleiht
ihm bei den seiner Begabung angemessenen Aufga-
ben vollendete Meisterschaft. —

Es ist sehr erfreulich, dass die besonders in
Italien neuerdings üblich gewordene Übertragung im-
pressionistischer Prinzipien auf die Werke des Mei-
ßels in Deutschland vorerst noch wenig Eingang ge-
funden hat. Willkommener als diese den Grundsätzen
der Plastik hohnsprechende Art, welche sich an
Stelle ausgeführter Arbeiten mit abozzirten Mar-
morskizzen begnügt, sind die stets erneuerten Ver-
suche polychromer Behandlung, für welche die
Münchener Ausstellung wiederum einige sehr glück-
liche Beispiele — besonders die „Farbigen" Pagano's
bot. Auch die seltsamen Arbeiten Stephan Sindings,
welcher Hohlformen, gleichsam als umgekehrte Re-
liefs, durch virtuose Behandlung zu selbständigen
Kunstwerken zu erheben sucht, mögen passiren. Neu
freilich ist diese Kunstgattung nicht, ihr Stammbaum
gelit vielmehr bis zu den altägyptischen Koilana-
glyphen zurück, und Sinding scheint angesichts der
seltenen Linien- und Formenschönheit seiner Gruppe
,,Zwei Menschen" und seiner gefesselt ihr Kind stil-
lenden „Mutter" zu weit Höherem als zu solchen
mehr spielenden Experimenten berufen. — Durch
technische Virtuosität in der Behandlung des Marmors
standen auch diesmal einige italienische Arbeiten, vor
allem die verschleierte Mädchenbüste ÄppoUowis
an der Spitze. Trentanove hatte vier Werke gesandt,
darunter seine lebensvolle Statue Victor Hugo's.
Besonders reich war unter den ausländischen Arbei-
ten die Gruppe der Belgier: CJiarlier, Du Bois
Samuel, Deweese, Lambeaux, van Beurden, van der
Stappen, de Vigne, ferner Dillens mit zwei eigen-
 
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