Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 4.1893

DOI Artikel:
Coronini, Carl Graf: Bemerkungen über das Wesen der Grazie
DOI Artikel:
Verschiedenes / Inserate
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.5367#0117

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
221

Bücherschau.

222

die Rede war, wurde gesagt, dass dieselbe von der
Kurve abhängig sei, welche die Bewegung beschreibt.
Wir möchten diese Behauptung hier dahin ergänzen,
dass die Grazie nicht nur von der Form, oder sagen
wir von dem Schwung der Linie allein abhängt, die
sie beschreibt, sondern auch von dem Verhältnis der
Geschwindigkeit, mit welcher die einzelnen Teile der
Linie zu stände kommen, von dem Verhältnis der
Anfangs- und Endegeschwindigkeit. Es gehört somit
jenes Accelerando und Rallentando der einer Kurve
folgenden Bewegung jedenfalls mit zur Bestimmung,
ob diese Bewegung graziös ist oder nicht. Ist die
Kurve der Bewegung an sich, das heißt als Linie
graziös, sind es aber die relativen Zeitverhältnisse
nicht, dann ist auch die Bewegung nicht vollständig
graziös.

Nun rücken wir dem Wesen der Grazie um
einen Schritt näher. Die graziöse Bewegung ver-
hingt eine Abweichung von der Gleichmäßigkeit in
ihrem zeitlichen Verlauf. Sie verlangt eine gewisse
Uberschwänglichkeit im Räume und in der Zeit.
Aber in dieser Freiheit, in dieser anscheinenden Sorg-
losigkeit liegt eine Gesetzmäßigkeit, deren Auffin-
dung doch möglich sein sollte. Wenn die Kurven
der graziösen Linie im Räume mathematisch bestimm-
baren Gesetzen folgen, wenn auch deren Zeitfolge
(das Accelerando und Rallentando) auf ein festes
Gesetz zurückgeführt werden könnte, wie z. B. jenes
der Fallgeschwindigkeit, dann könnte man wohl
sagen, dass ihrem inneren Wesen eine gewisse Pro-
portionalität zu Grunde liege. Wenn wir eine ana-
loge Proportionalität in den anderen Formen finden
würden, nämlich in der Grazie, die in der Musik,
im Vortrage, im Stil, in dem Anschlag der Stimme,
in den Umgangsformen, in der Toilette, mit einem
Worte in allen anderen Manifestationen des ästhe-
tischen Sinnes vorkommt, dann könnte man wohl
auf eine innere Verwandtschaft aller dieser Erschei-
nungen schließen und dann wäre es nicht allzu ge-
wagt, wenn man sie alle als aus einem gemeinsamen
Urquell entsprungen ansehen würde. Es lässt sich
aber thatsächlich z. B. in der Musik die Grazie, die
in einer sanften Abwechselung des Forte und Piano,
des Allegro und Adagio, des Erhöhen oder Vertiefen
des Tones, des Schwellen und Verklingenlassen des-
selben und überhaupt in der ganzen Wiedergabe
des Tonbildes liegt, mit einem systematischen Hin-
ziehen von Kurvenlinien vergleichen. Dasselbe könnte
man von der Grazie im Vortrage, im Stil, in der Phrase,
im Benehmen überhaupt sagen, wenn man der Phan-
tasie einen erlaubten Spielraum einräumen will.

Ein lockeres weitmaschiges Netz wäre somit
da, welches alle die vielfältigen Formen der Grazie
umschlingt, sozusagen die Mutterlauge, aus der sich
der Begriff der Grazie herauskrystallisirt. Wenn
die Baukunst eine gefrorene Musik genannt wurde,
so könnte man die Plastik eine festgebannte Grazie
nennen.

Die Grazie ist zweifellos ein Faktor des Schönen
und zwar jenes Schönen, welches nach den Gesetzen
der Ästhetik durch die Künste zum Ausdrucke
kommt und dessen Darstellung dem Genius des
Menschen zukommt, sowie auch jenes Schönen, das
der Schöpfer in die Natur gelegt hat und das vor-
zugsweise dann diese Bezeichnung verdient, wenn
es als formvollendeter Typus seiner Gattung gelten
kann. Wenn die innere Natur dieses, allen beiden
eben erwähnten Kategorieen des Schönen zukommen-
den Faktors, unserem Erkennen verschlossen wäre,
wenn näher nachgewiesen wäre, nach welchen Ge-
setzen das Band der Grazie alles dasjenige um-
schlingt, was schön genannt wird, dann wäre man
auch der klaren Feststellung des Begriffes des
Schönen in der allgemeinsten Bedeutung, das immer
noch trotz seiner Anziehungskraft einem leicht ver-
schleierten Bilde gleicht, näher gerückt.

Mögen sich berufene Geister finden, die diese
flüchtig hingeworfenen Gedanken eingehender aus-
führen und dadurch ihre innere Berechtigung fest-
stellen oder vielleicht durch die Uberzeugung von
ihrer Unhaltbarkeit auf eine andere richtigere Fährte
gelangen. Ihnen sei auch die weitere Erörterung
der Frage anheimgestellt, ob sich nicht die Begriffe
geschmachvoll und graziös bis auf kleine Verschieden-
heiten in der Schattirung nahezu decken.

BÜCHERSCHAU.
Die Bau- und Kunstdenkmäler von Berlin. Im

Auftrage des Magistrats der Stadt Berlin bearbeitet
von Ii. Borrmann. Mit einer geschichtlichen Ein-
leitung von /'. Clauswitz. Mit 28 Lichtdrucktafeln,
zahlreichen Abbildungen und 3 Plänen. Berlin,
Julius Springer. Kl. Fol. 436 S.

Bei der Inventarisation der Bau- und Kunst-
denkmäler in der Provinz Brandenburg, die Prof.
R. Bergau im Auftrage des brandenburgischen Pro-
vinziallandtags durchgeführt hat, war Berlin von dem
Auftraggeber von vornherein ausgeschlossen worden,
vermutlich weil man einerseits den Umfang des 1885
erschienenen starken Bandes nicht noch mehr aus-
dehnen und weil man andrerseits dem Magistrat der
Reichs- und Landeshauptstadt das nobile officium
 
Annotationen