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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 4.1893

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Böck, Rudolf: Die Jahresausstellung im Wiener Künstlerhause, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.5367#0191

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KUNSTCHRONIK

WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE.

Ankündigungsblatt des Verbandes der deutschen Kunstgewerbevereine.

HERAUSGEBER:

CARL von LÜTZOW und Dr. A. ROSENBERG

WIEN
Heugasse 58.

BERLIN SW.
Teltowerstrasse 17.

Verlag von E. A. SEEMANN in LEIPZIG, Gartenstr. 15. Berlin: W. H. KÜHL, Jägerstr. TA.

Neue Folge. IV. Jahrgang.

1892/93.

Nr. 23. 27. April.

Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur „Zeitschrift für bildende Kunst" und zum „Kunstgewerbeblatt" monatlich dreimal, in den
Sommermonaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfasst 33 Nummern. Die Abonnenten der „Zeit-
schrift für bildende Kunst" erhalten die Kunstchronik gratis. — Für Zeichnungen, Manuskripte etc., die unverlangt eingesandt werden,
leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Gewähr. Inserate, ä 30 Pf. für die dreispaltige Petitzeile, nehmen außer der Verlagshand-
lung die Annoncenexpeditionen von Haasenstein & Vogler, Rud. Mosse u. s. w. an.

DIE JAHRESAUSSTELLUNG im wiener
künstlerhause.

Das an unserer modernen Kunst so recht zu
Schanden gewordene Sprichwort .Wie die Alten
sungen, so zwitschern die Jungen" hat auf jeder
Ausstellung, die wir zu besuchen Gelegenheit haben,
allen Grund sich zu verstecken; noch eher hören
wir die Stimmen der Ururgroßväter aus den Moder-
nen heraus, fast nie aber sind die mehr oder minder
stimmlosen direkteren Vorfahren zu erkennen. Denn
auch die Renaissancekünstler sind, im Gegensatz zu
den Gotikern, nicht neuerungssüchtiger und zwar
aus innerem Triebe nicht neuerungssüchtiger gewesen
als unsere Modernen. Auch wir haben zum weitaus
größten Teil auf das Erbe der Väter verzichtet, wir
haben für unsere neuen Bedürfnisse ein neues Haus
gebaut und dem alten Gott, der sich uns in neuer
Gestalt offenbarte, einen neuen Tempel getürmt.
Freilich sind noch viele, wenn auch nicht unter den
Künstlern selbst, so doch in der großen Masse der
Genießenden mit ihren Sinnen nicht so weit, um das
Wort der Apostel des neuen gereinigten Glaubens
zu verstehen. Noch immer und wohl noch für lange
wird, wie zu allen Zeiten und auf allen Gebieten,
ein großer Teil der Menge an dem „Was" hängen
und nicht um das „Wie" fragen. Aber die Aufgabe
aller Streiter für die schönste Blüte menschlicher
Kultur, für die Kunst, muss es sein, auf den betrete-
nen Pfaden mutig vorwärts zu schreiten, unbeküm-
mert um den Beifall oder die Missbilligung des
Tages. Es ist übrigens gar keine Gefahr vorhanden,
dass unsere Kunst davon abgehe: eine Zeit, die sich

das konsequente Streben nach ungeschminkter Wahr-
heit auf die Fahne geschrieben hat, muss zum Schluss
auf das nach unseren menschlichen Begriffen Beste
und Vollendetste kommen. Jeder Gang durch eine
mit so viel Rigorosität wie die heurige Jahresaus-
stellung arrangirte Versammlung von modernen
Kunstwerken zeigt nach allen Seiten den rechten
Weg zur Wahrheit; ist doch die Wahrheit überall
zu finden, wenn wir nur unsere Augen öffnen wollen;
aber wenige haben die Augen, um zu sehen; freilich
ist ein Unterschied zwischen sehen und sehen. Die
Indolenz ist stärker als der gute Wille, seine Sinne
zu üben. Mancher bildet sich beim Genuss von Süß-
holz ein, ein Gourmand zu sein, und hält Austern
und Sekt für gemeine Nahrung. Stephan Simony
hat, ob absichtlich oder unabsichtlich wissen wir
nicht, eine etwas unparlamentarische Satire, die ewig
wahr bleibt, gemalt und auf der heurigen Ausstellung
exponirt: „Verschmähte Gabe" ist der Titel. Ein
trefflich gemaltes Bild; Gedanke und Form gleich
gut: Licht und Leben ringen darauf um den Preis,
welches von beiden besser wiedergegeben wurde.
Ein kindliches Mädchen verehrt einer Gruppe von
köstlich stumpfsinnigen, aber um so selbstbewusster
dastehenden Zweihufern ein üppiges Bouquet von
Pfingstrosen zum Fräße, die von jenen beschnuppert
un"d als unwürdig für einen Wiederkäuermagen mit
unwilligem Gebrumm zurückgewiesen werden. Hätte
uns der zoologische Name „Zweihufer" nicht an den
Schopenhauerischen Schimpf „Zweifüßler" erinnert,
uns wäre nimmer in den Sinn gekommen, in dem
köstlichen Gouachebilde eigentlich eine Tierfabel mit
ausgesprochener Tendenz zu finden.
 
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