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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 4.1893

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Richter, Jean Paul: Die Winterausstellung der Londoner Akademie
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https://doi.org/10.11588/diglit.5367#0160

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Die Winterausstellung der Londoner Akademie.

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des Domenico Ghirlandajo. Die National Gallery
verzeichnet ebenfalls drei, und wenn man diese Be-
nennungen unbesehen hinnehmen wollte, so könnte
man auf etwa vier bis sechs Stilwandlungen allein
im Porträtfach bei diesem stilkonsersativsten unter
den Florentiner Quattrocentisten schließen. Das
Forträt des Francesco Sassetti (Nr. 149 der Aus-
stellung) mit seinem Sohn Theodoras, aus der Samm-
lung R. H. Benson, früher bei Mr. Graham, stimmt
technisch in jeder Hinsicht überein mit dem Porträt
des alten Mannes mit der widerlich geschwollenen
Nase und dem reizenden Knaben zur Seite, welches
seit wenigen Jahren im Louvre sich befindet. In
beiden Bildern ist die breite Manier des Freskanten
charakteristisch. Die Farben sind möglichst unge-
brochen. Ein sattes Rot in den Gewändern waltet
vor, wie in manchen seiner großen Altarwerke.
Ghirlandajo zählte sechsunddreißig Jahre, als er
die Wandmalereien der Kapelle Sassetti vollendete.
Am Ende seiner von da ab fieberhaften Thätigkeit
stehen die Fresken im Chor von S. Maria Novella,
und dieser Zeit gehört auch das schöne, viel-
besprochene Damenporträt an in der National
Gallery, aus der Sammlung H. Willett, die Wieder-
holung einer Figur jener Chorfresken. Hier ist die
Ausführung reich an Detailmalerei, die Töne sind
bei feiner Abstufung fleißig verschmolzen. In diese
Klasse gehören auch die beiden Porträts der Aus-
stellung Nr. 159 und Nr. 163 aus der Sammlung Drury
Lane, von denen Repliken in der Berliner Galerie
unter dem Namen des Mainardi sich befinden
(Nr. 83 u. 86). Sowohl in dem Willett'schen als auch
in dem Lowe'schen Damenporträt Nr. 163 ist rechts
in der oberen Ecke des Bildes eine Korallenkette
angebracht, welche im Kreisbogen, gleich wie eine
Guirlande dahängt. Bekanntlich leitet Vasari den
Namen Ghirlandajo ab von den in der Werkstatt
des alten Tommaso massenhaft fabrizirten „ghir-
lande", einem besonderen Damenschmuck, was zwar
die neueren Kommentatoren nicht gelten lassen
wollen, aber diese alten Porträtbilder treten doch
offenbar dafür ein, und, was hier mehr zu sagen
hat, sie legen uns die Benennung Ghirlandajo näher,
als die Mainardi's, womit nicht gesagt sein soll,
dass bei der Ausführung nicht auch Gehilfen be-
teiligt gewesen sein mögen. In Altarwerken Ghir-
landajo's lassen wir bei viel geringeren Köpfen ja
auch seinen Namen gelten.

Von Florentiner Bildern ist noch die Gestalt
eines fliegenden Engels zu nennen, das Fragment
eines großen Altarwerkes (Nr. 160) aus dem Besitz

der Countess Brownlow, welches hier als Masaccio
gilt, aber durchaus die Stilmerkmale eines hervor-
ragenden Schülers des Fra Filippo aufweist, näm-
lich des liebenswürdigen Pesellino, von dem nur
wenig Werke uns erhalten sind.

Mantegna's Heilige Familie (Nr. 151) aus der
Sammlung von L. Mend ist ein der Kunstlitteratur
noch unbekanntes Bild, das vor einigen Jahren in
Verona entdeckt wurde. Die Komposition ist der
des Dresdener Bildes verwandt. Auch der Umfang
ist so ziemlich der gleiche. In dem Mend'schen
Bilde ist der Typus des Christuskindes von einer
Vollendung, dass man ihm die Anerkennung einer
geradezu klassischen Leistung nicht versagen kann.
Das Christkind steht auf einer kreisförmigen, die
knieende Madonna scheinbar umschließenden Stein-
brüstung, dem Iwrlus clausus der mittelalterlichen
Symbolik, an der u. a. auch Carpaccio auf zwei
Darstellungen der hl. Familie noch festhält. Der
Johannesknabe steht zur Seite des Jesusknaben
und deutet auf denselben. Die Idee des „Salvator
Mundi" ist hier in einer Weise zum Ausdruck ge-
bracht, die in der auf das Reformationszeitalter
folgenden Epoche italienischer Kunst geradezu als
ketzerisch gegolten haben würde. Es ist dies gewiss
eines des spätesten und reifsten Werke Mantegna's,
von dem bisher nur ein Stück seit dem Ende des
vorigen Jahrhunderts bekannt war.

Von Bildern der Veronesischen Schule sind die
beiden Einzelfiguren der Heiligen Petrus und
Johannes (Nr. 153) aus derselben Sammlung zu-
nächst zu nennen. Dieses Jugendwerk des Girolamo
dai Libri kann nicht später angesetzt werden, als
das erste Decennium des sechzehnten Jahrhunderts.
Verglichen mit den übrigen drei bekannten Jugend-
werken in der Galerie und in der Kirche S. Ana-
stasia in Verona und in der Pfarrkirche von
Malsesine, erscheinen die Londoner beiden Tafel-
bilder noch früher. Aus dem Charakter der hier
noch ganz minutiös behandelten Landschaft ergiebt
sich das unwiderleglich. Seinen weltbekannten
späteren Stil verraten zuerst die Heiligengestalten
im Chor von Marcellise, und für die Entstehung
dieser ist das Jahr 1515 beglaubigt. Hieraus er-
giebt sich ein ganz merkwürdiges kunstgeschicht-
liches Problem, auf das ich an anderer Stelle näher
einzugehen mir vorbehalte. Als Dürer im Jahre
1526 die berühmte Johannesfigur, jetzt in der
Münchener Pinakothek (Nr. 247), malte, muss ihm
diese Johannesfigur des Girolamo dai Libri vorge-
schwebt haben; denn Bewegung und Faltenwurf
 
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