Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Dalbmonatltcbe Ikundscbau.

Anter Mitvvirkung des Kegründers Ferdinand Nvenarius berausgegeben von

Vaul Scdumann.

2. Ooveinber-Dett lS93.

VLerter 3abrgang.

Lrscheint Anfang und
Mitte jeden Monats.

Westellgeld: t M. 60 pk. vierteljäbrl.

Anzeigen:

-^o j)f. f. d. H gesp. Petitzeile

Ikundsckau

* Legenden nnd /Därcbenmotive nn
Ilrunstgewerbe.

Line wichtige Lundgrube prächtigster Motive für
eine volkstümliche Auust ist die Legenden-, Sagen-
und Märcheuwelt des volkes, spiegelt sich doch fast
nirgends getreuer der Grundcharakter der cheele des
volkes wieder, und ist es doch gerade die ^auptauf-
gabe einer solchen Uunst, mit allem, was die cheele
des volkes bewegt, wie mit allem, was die Seele des
volkes hervorbringt, engste Fühlung zu bewahren, um
eben volkstümlich zu bleiben.

An und für sich ist das Märchen — um mit
einem kVorte Legenden, Mythen, Sagen, Utärchen,
Fabeln u. dgl. zusammenzufassen — in seinem Ursprung
rnit der Uunst eng verschwistert. Beide verdanken ihr
Lntstehen der phantasie des volkes, die das erste
Märchen schuf, indem sie einmal ein auffallendes
Naturereignis in eine gewaltige Göttersage umdichtete,
die das erste Runstwerk schuf, indem sie ein anderes
Mal aus einem sonderbar geformten Stück Anochen
oder Gehörn das Abbild eines fliehenden Nen- oder
Llentieres mit auf die Schultern zurückgelegtem Ge-
weih heraussah. und irgend Ginen aus dsm Volk auf
die sZdee brachte, durch etwas Schnitzeln dem Natur-
spiel nachzuhelsen. Ls ist daher kein kvunder, daß
wir in allen originalen volkstümlichen Rünsten und
Runstgewerben einen engen Zusammenhang mit der
Nlärchenwelt des betreffenden volkes gewahren, einer-
lei, ob diese religiöser, heroischsr oder rein-mensch-
licher Natur ist, einerlei, ob darin Götter oder Rönige
oder Rleinbürger oder gar Tiere die ksauptrolle spielen,
einerlei, ob ihr Ursprung eine rein religiöse ^ypothese
oder die Lrinnerung an ein historisches oder klein-
bürgerlich-lokales, an ein weltumstürzendes oder ein
liebenswürdig-humoristisches Lreiguis oder endlich etwa
das Bestreben ist, einer erzieherischen Lebensregel eine
anziehende, charakteristische Linkleidnng zu geben.

Die Runst in ihrer größeren Ungebundenheit ist
natürlich, sobald sie erst die Fähigkeit, Figürliches
einigermaßen darzustellen, überhauxt einmal erlangt

hat, besser imstande, aus der Märchenwelt Motive
herauszuholen, als das Runstgewerbe mit seiner Ge-
bundenheit durch Zweck, Material und Technik. Zn
völliger Freiheit ist es ersterer möglich, alle Arten
Azenen darzustellen, was das Runstgewerbe nur in
denen seiner Zweige kann, dis sich der höheren Runst
in hervorragender weise näherte. lvährend wir da-
her in der Malerei und Bildhauerei bestimmte Szenen
bestimmter Märchen besonders verwendet sehen, sind
es im Runstgewerbe mehr einfach typische Akärchen-
wesen mit irgendwelcher phantastischen Rörperbildung,
sozusagen kvesen ohne Vor- und Zunamen; stellen
sene z. B. die Beowulfsage oder die Legende vom
heiligen Martin oder das Märchen von den sieben
Naben dar, so spielen in diesem mehr kvesen, wis
Gnomen, Drachen, Faune, Rentauren usw. eine Rolle.
Zndessen ist im Runstgewerbe auch die verwenduug
bestimmter chzenen aus bestimmten Märchen nicht
gerade selten, ja gerade durch die sinnreiche Über-
windung technischer Schwierigkeiten erhalten die An-
wendungen solcher Märchenmotive im Runstgewerbe
oft noch einen besonderen Neiz. So brachte z. B.
einmal 1'^.rt pour tous einen Bischofsstab mit einer
höchst drolligen verwendung des Rampfes zwischen
dem hl. Georg und dem Drachen; letzterer wuchs ge-
wissermaßen aus dem Stabe hervor, sein Rörper und
kjals bildeten die charakteristische Rrümmung des
Stabes, in welche die Gestalt des stseiligen, dem Un-
tier das Schwert in den Rachen stoßend, hineinkom-
ponirt war.

Ligentlich müßte man einen Unterschied machen
zwischen der verwendung sozusagen unbewußter und
bewußter Nkärcheumotive, d. h. man müßte, wenn
man z. B. etwa eins vollständige Geschichte des
Niärchsns in der Runst schreiben wollte, darauf Acht
geben, ob das von uns Nilärchen genannte Lrzeugnis
menschlicher j)hantasie für den verfertiger eines der-
artigen Runstwerkes oder für sein Volk zur Zeit der
verfertigung eben desselben in der That Nkärchen
war, oder ob es ihm vielmehr ernste Glaubenssache,
 
Annotationen