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als daß er auf eine Hand voll Säulen, aus prunkende
Renaissance-, Rokoko- oder andersetikettirte Schnitzereien
und Mumpitzereien usw. verzichtete. Daran sind die
Architekten schuld! Die haben den armen Tischlern
das aufgezwungen, die haben dem publikum gesagt;
so und so viele Säulen, solche und solche weitmächtige
profile usw. usw. muß ein anständiger Schrank we-
nigstens haben, sonst ist er nicht gesellschaftsfähig.
Und nun will es das publikum so! Wieder andere
sagen: Nein, die Architekten sind es auch nicht, die
die ganze Schuld haben. Nein, die, die den Tischler
genötigt haben, dem publikum vorzuspiegeln, er, der
verfertiger dieses oder jenes Nköbels, sei ein Deutscher
oder Franzmann aus dem Iahrhundert oder ein
Araber oder Iapaner, oder den Aäufern weiszu-
machen, sie wären alte Deutsche und zählten töoo
und so und so viel, oder sie gehörten irgend welcher
exotischen Nlenschenrasse an und müßten sich demgemäß in
derlei Runstweisen fabelhaft wohl und heimisch fühlen

— nicht sie, nein, sagen wir nochmals, wer das auf dem
Gewissen hat: das sind die Schriststeller und Gelehrten!
Lrst — damals nämlich, als wir in der Biedermeier-
zeit uns als ehrsame böandwerker fühlten und wenig
anderen Lhrgeiz hatten, als den, Nköbel zu machen,
die man brauchen konnte — erst stichelten sie und
redeten uns immer vor, wir sollten uns eigentlich
was schämen, die Alten vor so und so viel f)ahr-
hunderten, das wären ganz andere Rerls gewesen,
als wir, sie wären Rünstler gewesen. Schön! aber
als wir nun hergehen, uns ihnen zulieb Runstsinn
angewöhnen und in die Stilart, die sie uns als die
beste anpreisen, mit Nküh und Not hineinquälen —
da mit einemmale heißt es: Lsalt, die Stilart ist ja
eine ganz verkehrte, die paßt ja garnicht für uns,
die und die müßt ihr nehmen! Nnd als wir ganz
erschrocken nun die nehmen, heißt es wieder mit
einemmale: Lsalt, wir haben uns versehen, die ist es
auch nicht! Und so ging das fort. Raum waren
wir in einem Nock, der aus Überbleibfeln irgend
welcher Zeit zusammengeschneidert war, warm geworden,
gleich hieß es: Ausziehen und einen andern anziehen.
wir wurden so ganz erklärlicherweise das reine
Lhamäleon! Und nun kommt man schier dazu, uns
die alte Biedermeierzeit, aus der man uns vor
wenigen Zahrzehnten herausgerissen, wieder zu
empfehlen: was sollen wir Tischler denn nun
eigentlich?

Die armen Tischler! Sie sind nun die ersten,
an deren Lrzeugnissen man mit einemmale den Ab-
grund erkennt, an dem unser Runsthandwerk in
kindlicher Unschuld und Selbstzufriedenheit entlang-
geschlendert ist. Sie müssen nun die ersten Ausbrüche
der Lrnüchterung aus der chtilartenorgie aushalten!

So sehr wir uns natürlich freuen, daß endlich der
jüngste Tag für die Sünden unseres Aunstgewerbes
anzubrechen scheint (scheint es wirklich so?), und daß
das gerade bei dem, man kann wohl sagen, führenden
Runsthandwerk anfängt, so müssen wir doch aus-
drücklich betonen, daß unsere anderen Runsthand-
werker und Architekten durchaus keinen Grund haben,
pharisäisch zu sagen: Gottlob, daß wir nicht so sind,
wie jene! Sie sind ebenso schuldig und ebenso un-
schuldig, wie die Tischler, die ersten Sündenbäcke des

— darf ich's sagen? — Ratzenjammers, der auf

den übermäßigen und unsinnigen Genuß des an und
für sich ganz guten Lseilmittels: Studium der werke
unserer Vorväter folgen mußte und nun auch folgt.

chchuldig sind sie alle insofern, als sie nicht
charakterfest genug waren, Studium und Nachäfferei
auseinanderhalten zu können, unschuldig sind sie alle
insofern, als sie einfach unbewußte Mitspieler waren
an dem Lustspiel „Die Neise durch die Stilarten in
50 Zahren", welches die vorsehung zwecks Auf-
erweckung des schlummernden Runstverständnisses auf
dem Gebiete des Runsthandwerks aufzuführen für
gut hielt — ein Lustsxiel war's für die, welche die
Fehler erkannt hatten und ahnten oder wußten, wie
sich der Nkangel an Selbständigkeit rächen würde,
wenn sie all die schönen Neden zu Gunsten dieses
oder jenes Stiles hörten, wenn sie all die Lselsbrücken
in Form von prachtwerken in immer sich mehrender
Flut auftauchen sahen, aber auch ein Trauerspiel
war's für die, die da warnten und nicht gehört
wurden —- jetzt wird's auch ein solches für die, die
da nicht hären wollten, was jene warnend sagten!

N)ie gesagt, man kann, selbst wenn man, wie wir,
dem modernen Getriebe im Runstgewerbe als erklärter
Feind gegenübersteht, wenn man mit zu jenen warnern
gehört, doch Nlitleid mit den Tischlern fühlen, die's
jetzt ausbaden müssen. Nköchten sie aber nun auch
die ersten sein, die Rehrt machen, die den alten
Schlendrian verlassen, Linkehr in sich selbst halten!
Nkächten sie statt luxusgieriger Spekulanten wieder
solide Handwerker werden, die fürs ganze Volk
brauchbare Nköbel schaffen, und zwar, wie wir Deutschen
vor allen sollten, einfache, ehrliche Möbel! Nköchten
sie statt internationaler „Rünsteler" wieder deutsche
volkstümliche Rünstler werden, die ihre Merke mit
einem bsauch wahrhafter poesie überziehen, möchten
sie statt Bücherwürmer wieder Nkenschen werden, die
mit hellen Augen in die Natur hinausschauen und
beherzigen, was sie uns an Formen, Farben und
Rompositionsgesetzen in unvergänglicher und über-
reichen Schönheit lehrt!

„Linfachheit, Brauchbarkeit und Naturstudium"
(wir möchten hinzufügen: verklärt durch wahrhafte,
deutsche, volkstümliche jpoesie) mögen, wie das in
Lsamburg einer der bahnbrechenden Niänner aussprach,
die Ziele sein, denen unser Tischlerhandwerk wieder
zustrebt, und die Grundlagen, auf denen es sich ver-
jüngt, zum eigenen Lseil Und zum kqeil des ganzen
deutschen Runstgewerbes!

» Dkls lsrunstgevverbe und die Arsacben
seiner torlvväbreudeu Ltilveräuderuug. (Schluß.)

Zurückkehrend zu der obsnerwähnten Erscheinung
der fortwährenden Stilveränderung in unserem Runst-
gewerbe, legen wir uns nun die Frage vor: tvoher
kommt dieser immerwährende tvechsel in unseren Stil-
formen, was veranlaßt denselben und wodurch ist
dieses Gesetz bedingt?

Die Beantwortung dieser Frage zwingt uns, etwas
weiter zurückzugreifen. —

Der Lindruck, den ein Runstwerk auf uns macht,
ist ein aus verschiedenen Linzelwirkungen zusammen-
gesetzter, von denen besonders zwei kfauptwirkungen
wahrnehmbar sind, die eine beruht mehr auf dem

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