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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 15.1903-1904

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Widmer, Karl: Zum Wesen der modernen Kunst: Streiflichter
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https://doi.org/10.11588/diglit.4871#0040

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ZUM WESEN DER MODERNEN KUNST

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GROSSE BERLINER KUNSTAUSSTELLUNG 1903, SPEISEZIMMER, ENTWURF: ARCHITEKT E. SCHAUDT,
AUSFÜHRUNG: LION KIESSLING, MALEREI: RICHARD GUHR

Gegensätzen und ebenso unerschöpflich ist die Mannig-
faltigkeit der das Leben auffassenden künstlerischen
Subjektivitäten. Das Wesen der Kunst ist aber Sub-
jektivität. Es wäre ein übles Zeugnis für die Auf-
nahmefähigkeit der modernen Kunst, wenn sie nicht
berufen wäre, all diese Widersprüche in ihrem Spiegel
zu reflektieren. Alles wahrhaft lebendige ist wider-
spruchsvoll. Nur die graue Theorie ist durchaus
logisch und konsequent. Die Logik ist aber nicht
die Wahrheit. Zum wenigsten nicht die Wahrheit,
die der Künstler zu verkünden hat.

Muß man sich also schon in diesem Sinne vor
einer einseitigen und oberflächlichen Auffassung des
Begriffs moderne Kunst hüten, so liegt in dem Wort
selbst ein gewisser Widerspruch zu dem, was es tat-
sächlich in sich schließt. Was heißt denn überhaupt
»modern«? Wie viel von dem, was wir so zu
nennen belieben ist es denn in des Wortes absoluter
Bedeutung: das unbedingte, unvermittelte Produkt
unserer Zeit, unser ausschließliches Eigentum? »Was
du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es zu be-
sitzen.« Noch keine Zeit hat sich das Recht nehmen
lassen, ihre eigene Erfindungsgabe durch Anleihen
bei vorausgegangenen Zeitaltern und bei fremden

Nationen zu bereichern. In die Luft bauen können
wir nicht, und unser Bauen selbst ist nichts anderes,
als daß wir die überlieferten und aufgefundenen
Bausteine zu immer neuen Kombinationen zusammen-
setzen. Dabei beschreibt die Geschichte der Künste
einen ewigen Kreislauf: von Extrem zu Extrem.
Wenn eine Strecke durchlaufen ist, eine Richtung
sich in ihrer äußersten Möglichkeit erschöpft hat,
erfolgt der Rückschlag. In der Kunst, wo alles auf
dem Gesetz des Gegensatzes beruht — jedes einzelne
Werk sich aufbaut aus Kontrasteffekten: Hell und
Dunkel, Kalt und Warm, Hoch und Breit, Ruhe und
Unruhe und wie sie sonst heißen mögen — da voll-
zieht sich auch die historische Entwickelung not-
wendigerweise in einem besonders lebhaften Spiel
von Aktion und Reaktion. Haben wir uns an der
Farbe müde gesehen, so wollen wir wieder Grau.
Wenn wir uns am Reichtum übersättigt haben, so
erscheint uns das Einfache als die Blüte des Ge-
schmacks. Und jedesmal suchen wir die Berechtigung
unseres eigenen Standpunktes durch Analogien aus
der Vergangenheit zu befestigen, jedesmal den Faden
unseres eigenen Schaffens da wieder anzuknüpfen,
wo ihn die Generation oder die Generationen vor
 
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