»INNENKUNST. ALTONA, REFORMKOSTÜME NACH ENTWURF VON ALFR. MOHRBUTTER,
AUSGEF. VON O. A. SCHMERSAHL, HAMBURG1)
DIE »INNENKUNST« IN ALTONA
Sich regen ist Leben!
Alle Kräfte wecken
Zu liüheren Zwecken! —
AUF das verflossene Jahrhundert pflegen wir mit
Stolz zurückzublicken als auf eine Epoche, die
an geistigem Aufschwung und kulturellem Er-
folg beispiellos dasteht in der Geschichte der Mensch-
heit. Diese Höchstschätzung einer Epoche, die ja, in
ihrem letzten Viertel wenigstens, die liebe eigene des
jetzt noch wirkenden Geschlechts ist, durch verglei-
chende Kritik zu modifizieren, liegt hier außerhalb
meiner Aufgabe. Auf eine Schattenseite der rapiden
Entwicklung europäischer Kultur im 19. Jahrhundert
hinzuweisen, kann an dieser Stelle um so weniger
umgangen werden, als dieselbe ein prägnantes Cha-
rakteristikum des Jahrhunderts ist, wenn man etwa
vom ersten Drittel desselben absieht: die ästhetische
Geschmacklosigkeit. Zu meiner Überraschung ward
mir durch vergleichende Kunststudien die Überzeugung,
daß nie und nirgends, bei keinem Volke, zu keiner
früheren Zeit in annähernd gleicher Allgemeinheit ein
solcher Mangel an ästhetischem Geschmack herrschend
gewesen ist, wie im aufgeklärten Europa während
eben der bezeichneten Epoche.
Die Natur, das wird jeder ohne weiteres zugeben,
kennt nicht den Begriff der Geschmacklosigkeit; auf
Schritt und Tritt entzücken uns ihre ewig jugendlich
1) Diese wie die drei folgenden Abbildungen nach
photographischen Aufnahmen von Köhnen & Sohn, Hamburg.
Kunstgewerbeblatt. N. F. XV. H. 4.
reizvollen Motive und Ornamente. Und die Nationen
vergangener Zeiten und alle jetzt lebenden, der Seg-
nungen moderner Kultur mehr oder weniger noch
entbehrenden Völker und Stämme, hinunter bis zu den
wildesten — entzücken nicht ihre Erzeugnisse in Bau-
art, Kleidung, Töpferei, Flechtwerk, Waffen und allem
Hausrat das von Vorurteilen befreite Auge? Man
kann hier bei vergleichender Betrachtung, wenn man
will, vielleicht eine Stufenleiter der Geschmacksr«/«'-
nerung aufstellen, eine Vergeistigung des künstlerischen
Empfindens konstatieren — auf das Geschmack/ose
treffen wir bei diesen Völkern, sowie jenseits der
Schwelle des ig. Jahrhunderts eigentlich nie. Die von
wilden armseligen Stämmen zum Beispiel hergestellten
Gebrauchsgegenstände wirken manchmal vielleicht bi-
zarr; stets aber haben sie, außer dem Vorzug der
Originalität, etwas in Formen- und Farbenwirkung,
wodurch das ästhetisch gebildete Auge erfreut wird.
Das Geschmack/öse ist eben ein Unding, eine Un-
natur — ein Gespenst, dessen Erzeugung sich eben
das Jahrhundert der Erfindung rühmen kann. Aber
mit der Bezeichnung als Unding, als Unnatur kommen
wir nicht aus, werden wir nicht mit ihm fertig: es ist
einmal da, das Geschmacklose; zu seiner Beseitigung
müssen wir ihm noch näher auf den Leib rücken.
Am besten fassen wir es wohl, wenn wir es patho-
logisch nehmen — die Folge der einseitigen, sich
übereilenden wissenschaftlichen Ausbildung des mensch-
lichen Geistes, wie sie für das vorige Jahrhundert be-
zeichnend ist. Einseitige Entwicklung bringt immer
10
AUSGEF. VON O. A. SCHMERSAHL, HAMBURG1)
DIE »INNENKUNST« IN ALTONA
Sich regen ist Leben!
Alle Kräfte wecken
Zu liüheren Zwecken! —
AUF das verflossene Jahrhundert pflegen wir mit
Stolz zurückzublicken als auf eine Epoche, die
an geistigem Aufschwung und kulturellem Er-
folg beispiellos dasteht in der Geschichte der Mensch-
heit. Diese Höchstschätzung einer Epoche, die ja, in
ihrem letzten Viertel wenigstens, die liebe eigene des
jetzt noch wirkenden Geschlechts ist, durch verglei-
chende Kritik zu modifizieren, liegt hier außerhalb
meiner Aufgabe. Auf eine Schattenseite der rapiden
Entwicklung europäischer Kultur im 19. Jahrhundert
hinzuweisen, kann an dieser Stelle um so weniger
umgangen werden, als dieselbe ein prägnantes Cha-
rakteristikum des Jahrhunderts ist, wenn man etwa
vom ersten Drittel desselben absieht: die ästhetische
Geschmacklosigkeit. Zu meiner Überraschung ward
mir durch vergleichende Kunststudien die Überzeugung,
daß nie und nirgends, bei keinem Volke, zu keiner
früheren Zeit in annähernd gleicher Allgemeinheit ein
solcher Mangel an ästhetischem Geschmack herrschend
gewesen ist, wie im aufgeklärten Europa während
eben der bezeichneten Epoche.
Die Natur, das wird jeder ohne weiteres zugeben,
kennt nicht den Begriff der Geschmacklosigkeit; auf
Schritt und Tritt entzücken uns ihre ewig jugendlich
1) Diese wie die drei folgenden Abbildungen nach
photographischen Aufnahmen von Köhnen & Sohn, Hamburg.
Kunstgewerbeblatt. N. F. XV. H. 4.
reizvollen Motive und Ornamente. Und die Nationen
vergangener Zeiten und alle jetzt lebenden, der Seg-
nungen moderner Kultur mehr oder weniger noch
entbehrenden Völker und Stämme, hinunter bis zu den
wildesten — entzücken nicht ihre Erzeugnisse in Bau-
art, Kleidung, Töpferei, Flechtwerk, Waffen und allem
Hausrat das von Vorurteilen befreite Auge? Man
kann hier bei vergleichender Betrachtung, wenn man
will, vielleicht eine Stufenleiter der Geschmacksr«/«'-
nerung aufstellen, eine Vergeistigung des künstlerischen
Empfindens konstatieren — auf das Geschmack/ose
treffen wir bei diesen Völkern, sowie jenseits der
Schwelle des ig. Jahrhunderts eigentlich nie. Die von
wilden armseligen Stämmen zum Beispiel hergestellten
Gebrauchsgegenstände wirken manchmal vielleicht bi-
zarr; stets aber haben sie, außer dem Vorzug der
Originalität, etwas in Formen- und Farbenwirkung,
wodurch das ästhetisch gebildete Auge erfreut wird.
Das Geschmack/öse ist eben ein Unding, eine Un-
natur — ein Gespenst, dessen Erzeugung sich eben
das Jahrhundert der Erfindung rühmen kann. Aber
mit der Bezeichnung als Unding, als Unnatur kommen
wir nicht aus, werden wir nicht mit ihm fertig: es ist
einmal da, das Geschmacklose; zu seiner Beseitigung
müssen wir ihm noch näher auf den Leib rücken.
Am besten fassen wir es wohl, wenn wir es patho-
logisch nehmen — die Folge der einseitigen, sich
übereilenden wissenschaftlichen Ausbildung des mensch-
lichen Geistes, wie sie für das vorige Jahrhundert be-
zeichnend ist. Einseitige Entwicklung bringt immer
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