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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 15.1903-1904

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Widmer, Karl: Zum Wesen der modernen Kunst: Streiflichter
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https://doi.org/10.11588/diglit.4871#0041

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ZUM WESEN DER MODERNEN KUNST

BÜFFET ZUM SPEISEZIMMER (ABB. S. 31), ENTW.: ARCHITEKT E. SCHAUDT, AUSFÜHR.: LION KIESSLINQ

uns abgerissen haben. So verwickelt sich ganz von
selbst Altes und Neues, Eigenes und Fremdes zu einem
oft unentwirrbaren Knoten. Aber die Extreme folgen
nicht nur zeitlich und räumlich getrennt ao/einander,
sie bestehen auch nebeneinander fort, durchdringen
sich, mischen sich. Im Reiche des Geschmackes kann
eine Anschauung vorherrschen, aber nie allein herr-
schen. Das alles trägt dazu bei, das Gewebe noch
unentwirrbarer, bunter zu machen, es noch schwerer
zu machen, den roten Faden, der das Ganze be-
herrscht, herauszufinden.

Aber ein solcher durchgehender Faden, eine vor-
herrschende Grundtendenz ist immer da, wo wir eine
lebendige, aufsteigende Kunstbewegung beobachten.
So leben wir künstlerisch wieder, in einer ausge-
sprochenen Epoche der Einfachheit: Das ist aber nur
der formale und äußere Ausdruck einer aus der Tiefe
kommenden Verinnerlichang und Vergeistigung des
künstlerischen Empfindens. Wenn etwas für unsern
heutigen Geschmack und damit für die Grundtendenz
der modernen Kunst bezeichnend ist, so ist es das
Bedürfnis nach Wesentlichkeit, herber Wahrheit und
damit nach Schlichtheit und Ehrlichkeit des Aus-
drucks. Wir haben das Verbrämte, Versüßte und

Geschminkte überall satt bekommen. Und: Rückkehr
zur Natur heißt wieder das erlösende Wort auf allen
Gebieten. Richard Wagner hat im musikalischen
Drama das überlebte konventionelle Zopfsystem des
italienischen Arien- und Trillerwesens umgestürzt und
an seine Stelle den einfachen und unmittelbaren Aus-
druck menschlicher Empfindung gesetzt. So dringt
auch unsere bildende Kunst wieder auf das echte,
das wesentliche in all ihren charakteristischen For-
derungen: in Architektur und Kunstgewerbe auf ge-
diegenes Material (keine Surrogate!), materialgemäße
Behandlung, zweckentsprechende Einfachheit, die
Schönheit im gesetzmäßigen Aufbau der Formen,
nicht im Schnörkelwerk u. s. w. In jeder Art von
Kunstwerk aber steht uns über allem der Gehalt an
Persönlichem als die eigentliche Quintessenz des
Künstlerischen. Die Seele ist alles, die Mache nichts.
Ob der Vortrag in einem Gemälde altmodisch »ver-
schmolzen« oder modern »breitpinselig« ist, wenn
das Ganze nur der Ausdruck eines echten, aus dem
Innern quellenden künstlerischen Empfindens ist.
Warum sind die »Akademiker« mit all ihrem fort-
geschrittenen Können, ihren auf der Höhe der Wissen-
schaft stehenden anatomischen und perspektivischen
 
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